Nächster bewaffneter Überfall auf Wiener Trafik. Waffenverbotszone. Aggressiver Mann festgenommen. All das sind Fetzen aktueller Berichterstattungen über und aus dem 10. Wiener Bezirk Favoriten. Favoriten wird oftmals als die gefährlichste Ecke der Stadt beschrieben. Als eine Gegend, in der man aufpassen muss. Auf sich und sein Hab und Gut. Und vor allem auf die Kinder. Der Grund für die Stigmatisierung liegt natürlich und leider auf der Hand, ist der Bezirk doch stark migrantisch geprägt. Begriffe wie Multikulti oder vielseitig, mit denen die Situation in Favoriten romantischer beschrieben wäre, hört man selten.

Der Bezirk schenkt dem Film von Ruth Beckermann seinen Namen: Favoriten. Aus dem einfachen Grund, dass die Handlung ebendort spielt. Und doch weckt der Titel, vor allem für alle, die mit dem Alltag in Wien nicht so vertraut sind, eine andere Erwartung an den Film und wirkt paradox zur eigentlichen Handlung. Im Zentrum des Dokumentarfilms stehen und sitzen und springen die 28 Schüler:innen einer Grundschulklasse des Viertels, die aber gerade die Anti-Favoriten der Gesellschaft und des Landes darstellen.

Über drei Jahre, von der zweiten bis zur vierten Stufe, hat Ruth Beckermann die Klasse und ihre junge Lehrerin Ilkay Idiskut begleitet. Wir sehen sie im Unterricht, in den Pausen, beim Spiel und Streit. Ab und zu beim Elterngespräch, auf Ausflügen in die Moschee oder in den Stephansdom. Hier trudeln die Kinder in das Wahrzeichen der österreichischen, katholischen Identität bis vor zum Altar, vor zum Priester, der nur schwer versteht, dass sich in der Klasse kein einziges Kind mit seiner Religion befindet und ihnen dennoch versucht klarzumachen, dass der Stephansdom auch IHR Dom ist.

Im Klassenraum von Ilkay gibt es keine Themen, die verschwiegen oder im Nachklang an etwas Geschehenes nicht besprochen und reflektiert werden. Ilkay begegnet uns als Lehrerin mit großem Herz, sie hat keine Scheu vor Problemen jeder couleur und großen Ehrgeiz, die Kinder auf das Leben außerhalb des Klassenraums vorzubereiten und ihnen hierfür so viele Weichen wie nur möglich zu stellen.

Die Kinder der Klasse eint, dass kaum jemand fehlerfreies Deutsch spricht. Sie alle kommen aus unterschiedlichen Ländern, unterschiedlichen Kulturen und Religionen. In vielen der Familien wird kaum oder überhaupt kein Deutsch gesprochen, was es den Kindern zusätzlich erschwert, sich zu verbessern.

Worüber allerdings gesprochen wird, sind die Dinge, die die Kinder von ihren Familien mit in das Klassenzimmer bringen. Es geht um den Ukraine-Krieg, darum, wie sich eine Frau zu kleiden hat, ob sie das überhaupt eigenständig dürfe, und über einen gewaltfreien Umgang miteinander. Durch all die Probleme und Konflikte navigiert der Film und vor allem die Lehrerin perfekt. Sie geht auf alle Kinder ein, hört allen zu, nimmt alles ernst, hinterfragt und regt an, umzudenken. Und vor allem zollt sie ihren Schüler:innen ununterbrochen ihren größten Respekt.

Ruth Beckermann, jüdische Regisseurin aus Wien, bringt das große Thema Integration auf die Leinwand. Dabei wählt sie die Handlung und somit die Hauptdarsteller:innen des Films perfekt, da ein Klassenzusammenhang auch immer ein Integrationsexperiment ist.

Von Szene zu Szene gewinnt man die Kinder immer lieber und wird so auf sehr liebevolle und sanfte Art mit der Thematik konfrontiert. Der Kniff, dass Beckermann die Kinder mit Smartphones ausstattet und sich diese in der Schule, den Pausen und auf dem Nachhauseweg selbst filmen, ermöglicht dem Film einen noch intimeren Einblick in das Leben und die Köpfe der Kleinen.

Deutliche Parallelen gibt es zu dem deutschen Dokumentarfilm Herr Bachmann und seine Klasse von Maria Speth. Auch hier begleiten wir die Schüler:innen der 6b, die aus zwölf Nationen stammen, an der Seite Herr Bachmanns. Auch hier wird der besondere, auf anderen Prinzipien basierende Umgang des Lehrers mit den Schüler:innen gezeigt. Auch hier schließen wir die heranwachsenden Kinder und Herrn Bachmann ins Herz. Und auch hier geht es um Integration.

Andauernd wird deutlich, dass Ilkay den Kindern dabei helfen will, ihren Platz in der Welt und in ihrer Zukunft zu finden. Sie regt sie an, darüber nachzudenken, was sie werden wollen. Lässt die Kinder sich gegenseitig interviewen. Zu ihren Jobvorstellungen, ihren Partnerschaftsvorstellungen, letztlich ihrer Unabhängigkeit. Ebenfalls informiert Beckermann über den Fachkräftemangel an österreichischen Schulen. So gibt es keine Nachfolger:innen für die Schulpsychologin oder zunächst gar für Ilkay selbst, als sie die Klasse abgeben muss, weil sie selbst bald ein Kind zur Welt bringen wird. Herzzerreißend steht sie vor der Klasse und muss ihr mitteilen, dass es niemanden gibt, der sie bis zum Jahresende und somit Schulabschluss begleiten kann.

Ein Film über Kinder ist immer ein Film über Emotionen, über Identität. Dieser Film über diese Kinder ist ein Film über Integration, Unterschiede, Gemeinsamkeiten und den Umgang damit. Über Konfliktlösung und Pädagogik. Über das gewaltlose Miteinander und die Unterstützung voneinander.

Dieser Film ist über die Kinder der Zukunft.