Die Familie Ochoa sitzt zusammen – und schweigt, so wie viele Familien, an Abendbrottischen oder auf ihren heimischen Wohnzimmergarnituren. Nur dass die Ochoas nicht vor dem Fernseher sitzen, sondern in der Fahrerkabine ihres Krankenwagens, die Gesichter von stummem Blaulicht erleuchtet. Es ist mitten in der Nacht und sie warten; auf einen Funkspruch, den sie heimlich mithören, oder den Anruf eines Polizisten, der sie über einen plötzlichen Unfall informiert. Dass ein staatlicher Krankenwagen in Mexiko-Stadt an einer Unfallstelle erscheint, so lernt man im Verlaufe von Luke Lorentzens Dokumentarfilm, ist nämlich eher unwahrscheinlich. Und wenn sie etwas hören, müssen sie schnell sein.

Für eine Population von 9 Millionen Einwohner*innen stehen in Mexiko-Stadt für den Notfall nur 45 staatliche Rettungswägen zu Verfügung. Zwar hat jede*r Mexikaner*in Anspruch auf medizinische Versorgung, jedoch besteht die entsprechende Infrastruktur bis zu drei Vierteln aus privaten Anbietern: Krankenhäuser, aber eben auch Krankentransportdienste wie ihn die Ochoas betreiben. Und so liefern sich die privaten Ambulanzen tagtägliche Wettrennen, wobei diese Einsätze nicht selten über Leben und Tod der verunfallten Personen entscheiden. Genauso aber auch darüber, ob die Betreiberfamilie sich ein Abendessen genehmigen kann oder eben hungern muss. Denn als privater Dienstleister bieten die Ochoas die verunfallten Personen bzw. deren Angehörige nach Erbringung ihrer Leistung zur Kasse – wie es in einem kapitalwirtschaftlich orientierten Gewerbe üblich ist –, selbst wenn den Opfern in den meisten Fällen gar keine Wahl bleibt, als die Dienstleistung anzunehmen.

Die Corona-Pandemie verleiht dem 2019 erschienen Midnight Family noch einmal mehr eine relevante Tragik. Denn das System, das Lorentzen zeigt, kennt eigentlich nur Verlierer*innen. Seien es die Unfallopfer, die nicht imstande sind, die hohen Rechnungen der privaten Dienstleister zu begleichen oder die Familie Ochoa selbst, die ebenfalls von der Hand in den Mund lebt und sich einen solchen Krankentransport im Notfall vermutlich selbst nicht einmal leisten könnte. Und dann gibt es noch die, die es gar nicht schaffen, wie die Frau, die aus dem 4. Stock gestürzt ist und auf dem Weg ins private Krankenhaus verstirbt. Hätte die Frau überlebt, wenn der Krankenwagen sie zu dem näher gelegenen staatlichen Krankenhaus gebracht hätte? Wir werden es nie erfahren. Mit seiner Darstellung wirft Lorentzen jedoch Fragen auf, die an der Ethik des aktuellen mexikanischen Gesundheitssystems berechtigen Zweifel aufkommen lassen.

Lorentzen bleibt in seiner Darstellung jedoch unparteiisch. Wir spüren die Beklemmung, die die hektischen Unfallszenen und die verunsicherten Stimmen der Verwundeten auslösen. Wir hören das Gellen der Sirene, sehen die flackernden Lichter des Blaulichts, das Blut und die Not. Gleichzeitig spüren wir die Scham, welche die Ochoas spüren müssen, wenn sie hinter angelehnten Türen den Angehörigen die Rechnungssumme eröffnen, ganz egal, wie erwachsen Juan zum Beispiel dabei wirkt.

Ohnehin ist das Familienportrait, welches Lorentzen in „Midnight Family“ zeichnet, ein sehr persönliches. Über drei Jahre hinweg begleitete er Fer Ochoa, die beiden Brüder Juan und Josué sowie Manuel, einen Freund der Familie, bei ihren nächtlichen Einsätzen im Krankenwagen. Die Verbindung, die er über diese Zeit aufgebaut hat, machen die Aufnahmen sichtbar. Nur selten sprechen die Protagonisten direkt in die Kamera. Die Ruhe, die es Lorentzen gelingt, inmitten einer Millionenstadt zu vermitteln, speist sich aus diesen sanften, ruhigen Momenten des Alltags der Ochoas, die immer wieder durch die hektischen Notfalleinsätze durchbrochen werden. Beispielsweise wenn Josué die Straße vor der parkenden Ambulanz als seine Liegewiese nutzt, sich im Sog seines Handybildschirms verliert und die Zeit stillzustehen scheint. Oder wenn wir Juan beim Gespräch mit seiner Freundin Jessica belauschen. Dann scheinen die Ochoas zumindest zwischenzeitlich als ganz normale Familie.