Die Frage danach, wie in den herrschenden Verhältnissen ein gutes Zusammenleben möglich ist, ist älter als das Kino selbst. Dennoch wird diese Frage auch im Kino immer wieder verhandelt und hat in den letzten zwanzig Jahren eine Menge dystopischer Zukunftsvisionen hervorgebracht. In Bacurau, der in einem Brasilien der nahen Zukunft spielt, sind die Dinge in vielerlei Hinsicht anders gelagert.

Kleber Mendonça Filho erzählt hier die Geschichte des gleichnamigen Dorfes, das wortwörtlich verschwindet, da es nicht mehr auf der Landkarte von Google Maps zu sehen ist. Auch andere merkwürdige Dinge geschehen im Dorf bis hin zu Todesfällen und einem Angriff einer Gruppe verrückter Amerikaner.

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Schon mit Aquarius (2016) inszenierte Filho einen Film, der sich mit dem Leben und Zurechtkommen im Kapitalismus auseinandersetzte. Dabei ging es nicht um Verzweiflung, sondern viel mehr um den Umgang mit dieser Lebensrealität. Bacurau geht an vielen Stellen noch über diese Idee hinaus. Das Dorf ist ein Ort des utopischen Zusammenlebens, in dem die verschiedensten Menschen (ein Mörder, eine Prostituierte, Homo- und Transsexuelle, Kinder etc.) zusammenleben. Der Film betrachtet diese Menschen stets als ein Kollektiv, das zwar keineswegs homogen oder widerspruchsfrei ist, aber im Kern doch zusammenhält. Diesem Zusammenhalt widmet der Film gerade zu Beginn sehr viel Zeit. Er zeigt in kleinen Szenen eine große Natürlichkeit im Zusammenleben, etwa wenn ein Mann im OP-Bett einer Ärztin schlafen darf, weil seine Frau ihn hinausgeworfen hat. Das in Teilen exzentrisch anmutende Verhalten der Figuren dient keinerlei Ironisierung oder Überspitzung, sondern soll viel mehr ihre Abweichung von der Norm deutlich machen. Das Zusammenleben in einem solchen Dorf ist eben keine Idylle, es ist anstrengend, aber, und das ist der Kern des Films, die lohnenswerte Alternative zu dem, was sonst (in Brasilien) für Verhältnisse herrschen.

Die langsame Annäherung von etwas Unbestimmtem und Gefährlichen inszeniert Filho auch als ästhetische Kippbewegung. Wenn Bacurau von der Landkarte verschwindet oder zwei Motorradfahrer in bunten Klamotten auftauchen, ahnen nicht nur die Zuschauer*innen, das etwas nicht stimmt, auch der Film beginnt diesen Horror langsam in sich aufzunehmen. Sobald dann die ersten Menschen gestorben sind, verschiebt sich auch die sowieso schon sehr offene Form des Filmes noch weiter. Hätte man ihn vorher grob in einer Western-Ästhetik verorten können, fügt der Film diesem nun noch einige Elemente des Horrorfilms hinzu. Der Nebel aus John Carpenters The Fog ist der heraufziehenden Gefahr in diesem Film in seiner Subtilität nicht unähnlich.

Ohnehin entsteht der Horror wie in den großen Klassikern des Horrorkinos nicht durch extreme Gewaltdarstellung, sondern durch die Subversion und das unterschwellige Gefühl einer Unbestimmtheit. Diese Unbestimmtheit lässt den Film auch politisch in verschiedener Hinsicht lesbar werden. Neben der recht klaren anti-westlichen Metapher der weißen Jäger, für die die Menschen in Bacurau nichts anderes als Tiere sind, geht es auch um die extreme Aggression eines kapitalistischen Systems gegen die offene Utopie des Dorfkollektivs. Aus den Augen des von Udo Kier in eigentümlicher Art und Weise dargestellten Anführers der Amerikaner spricht der pure Gegenpol zum freien Leben der Menschen in Bacurau.

Dabei ist interessant, dass sich diese Differenz auch in den Körpern der Figuren niederschlägt. In einer wunderschönen Tanz-Sequenz im Dunkeln des Dorfes beobachtet der Film liebevoll die vielen Berührungen der Dorfbewohner*innen und die Körper in ihrer ganzen Beweglichkeit. Die Körper der weißen Amerikaner werden im Gegensatz dazu als reine Masse und in Uniformen inszeniert, die schließlich den Anfang vom Ende durch zwei nackte Menschen erleben. Denn diesen wird ein körperlicher Ausdruck ermöglicht, der letztlich zu einer wehrhaften Selbstermächtigung führt.

Die Menschen aus Bacurau handeln und wehren sich aufgrund der herrschenden Verhältnisse, aber sie tun das nicht zum Schutz einer abgeschlossenen Heimat, sondern zur Befreiung eines unendlichen Möglichkeitsraums der Freiheit. Ein letzter Kamera-Schwenk schaut in die Gesichter der Dorfbewohner*innen. „This is only the beginning“, schreit Udo Kier am Ende. Es stimmt, jedes Ende ist auch schon wieder ein Anfang. Aber das Kollektiv und das Kino sind gewappnet.