„Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.“
Dies ist die erste Bibelstelle, die in DAS NEUE EVANGELIUM von Milo Rau aus dem Off eingestreut wird. Der Film ist ein leidenschaftlich gewebter Flickenteppich aus Dokumentation, Spielfilm und vielen Zwischenräumen.

Dass die süditalienische Stadt Matera zur Kulturhauptstadt Europas 2019 gewählt wurde, nahm man zum Anlass, Milo Rau um einen dort gedrehten Film zu bitten. Die Stadt ist von desolaten Flüchtlingslagern umgeben, deren Bewohnerinnen und Bewohner sich ohne Papiere als illegale Feldarbeiter oder Prostituierte durchkämpfen müssen. Dabei sind sie der Willkür der Mafia und der Lokalpolitik ebenso ausgeliefert wie der Witterung und der Hoffnungslosigkeit.

Inmitten dieser aus verschiedensten afrikanischen Ländern stammenden und größtenteils muslimischen Großgruppe von Geflüchteten tat sich bereits 2011 Yvan Sagnet als Wortführer hervor. Den gebürtigen Kameruner und ehemaligen Landarbeiter interpretiert Regisseur Milo Rau als Messias, der den Lagern Erlösung im politischen Kampf verspricht. Sagnet und seine Mitstreitenden haben seither tatsächlich viel erreicht im Kampf gegen ihre Ausbeutung. Die dokumentarischen Anteile des Films sind offenbar streckenweise nachgestellt, wie das Passionsspiel selbst. Szenen aus dem Kreuzweg und darüber hinaus verknüpft Rau geschickt mit der Situation der Geflüchteten, etwa, wenn die Tempelreinigung so uminterpretiert wird, dass die Feldarbeiter die Tomaten, die sie in die Supermärkte bringen, dort verwüsten.

Milo Rau, Jahrgang 1977, hat sich in der Vergangenheit neben seiner Filmarbeit vor allem als Theaterregisseur hervorgetan, dessen Werke stets hoch politisch, etwas abseitig und dem Skandalösen nicht abgeneigt sind. Auch die 2014 und 2017 veröffentlichten Filme DIE MOSKAUER PROZESSE und DAS KONGOTRIBUNAL tragen die Rezeptur des neuen Films in sich: politische Entrüstung und Analyse, verabreicht in einer Inszenierung, die sich nicht auf Realität oder Fiktion festlegen lässt und gerade darin nicht nur fasziniert, sondern auch allgemeine Bedeutung erlangt.

Ein neues filmisches Evangelium soll in Matera entstehen, eines, dass genau in unsere Zeit passt und sich realster Probleme seiner Protagonisten annimmt. Doch wie das neue Testament das alte im Nacken hat, so ist Raus Film heimgesucht von seinen Vorgängern: In und bei Matera drehten bereits Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson ihre Versionen der Passion Christi. Enrique Irazoqui, Pasolinis Christus, spielt Johannes den Täufer und gibt dem neuen Christus Schauspielunterricht. Maia Morgenstern, Gibsons Maria, kehrt in diese Rolle zurück. Hier markiert Rau auch die westliche Bildtradition, in die er sich und seine Erzählung stellt.

Man hat es insgesamt eher mit den Fragmenten von drei Filmen zu tun: ein Stadtmarketingprojekt, eine sozial engagierte Bibeladaption und eine kritisch-ironische Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte. Diese drei Ebenen fügen sich überraschend elegant ineinander, gerade da, wo sie nicht klar voneinander getrennt sind. Neben vielen der Geflüchteten spielen alle möglichen Laien aus der Stadt, auch Touristen, in dem Film mit. Wir sind bei Castings und Proben anwesend, die in manchen Szenen den Spielfilm ersetzen.

Milo Rau beansprucht alles, was im Christentum an Universalismus veranlagt ist. Sagnets Christus ist ein politischer Kämpfer für die Anerkennung der Würde derer, die außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehen. Einer, der in Jerusalem und im ganz realen Matera die „Revolte der Würde“ anführt und das Gesetz erfüllt, das Europa so oft nur behauptet.

Und er ist ein Christus, der sich bei den Proben verhaspelt, im Kostümfundus über die für seinen Rücken gedachte Peitsche schmunzelt und noch eine Aufnahme für seinen Dialog mit dem Satan braucht. Die Produktion und die Dreharbeiten nehmen fast ebenso viel Raum ein wie die dokumentarischen und die Spielfilmszenen.

Eine der aussagekräftigsten Szenen ist sicherlich die, in der der damalige Bürgermeister Materas, Raffaello De Ruggieri, gefragt wird, welche Rolle er gern spielen möchte. „Ich habe mich für die Rolle des Simon von Cyrene (der Jesus‘ Kreuz für ihn trug) entschieden, weil ich nicht Pontius Pilatus sein will“. Später sieht man ihn das Kreuz nehmen, es einige Sekunden tragen und dabei verlegen an der Kamera vorbei blicken, bevor er es wieder abgibt.

Ob man DAS NEUE EVANGELIUM als selbstreflexives Spiel mit starkem politischem Anliegen abtun oder als geniale Dekonstruktion filmischer Form und politischer Arbeit feiern soll, das ist manchmal nicht ganz einfach zu sagen. Aber wie Heiliges und Profanes, Experimentelles und Klassisches, Inszeniertes und Authentisches hier zusammengehen, das muss schon beeindrucken.
Zum Ende hin verlässt der Film seinen realpolitischen Boden, um sich ganz der Kreuzigung zu widmen. Die vielleicht wichtigste Botschaft, der Erfolg des Aufbegehrens der Menschen in den Lagern, wird so leider in den Abspann geschoben.

Reviewed by: Tim Abele