Manchmal weiß das Kino dann doch noch zu überraschen. In einem Zeitalter, in dem Informationen durch das Internet praktisch jedem zugänglich sind, ist das selten geworden. Filmtrailer nehmen die besten Szenen vorweg, selbst kürzeste Synopsen verraten zu viel, und gespoilert wird sowieso an jeder Ecke. Wenn der Film letztlich im Kino gesehen wird, verhindern das Vorwissen um den Inhalt und die gestiegene Erwartungshaltung häufig die ersehnte Begeisterung. Sind Scheuklappen also die einzige Lösung? Vielleicht bedarf es auch nur eines überstürzten Kinobesuchs während eines Filmfests.

Mir erging es so, als ich am späten Mittwochabend die Aufführung von F. W. Murnaus Stummfilmklassiker DER LETZTE MANN im Rahmen des Frankfurter LICHTER Festivals besuchte.

Weder war mir die zentrale Stellung von Murnaus Film in der deutschen Kinohistorie bekannt, noch hatte ich jemals zuvor etwas von der zweiköpfigen Synthesizer-Combo „Les Trucs“ gehört, die an diesem Abend für die musikalische Begleitung im Kinosaal des Filmmuseums sorgte. Was als eklatante Mangelinformation eigentlich nicht noch belohnt werden sollte, führte wahrscheinlich nicht nur bei mir zu einem unerwarteten Kinovergnügen.

Die Handlung von DER LETZTE MANN ist schnell erzählt, und aus heutiger Sicht wenig spektakulär. Ein Berliner Hotelportier ist mit dem Beruf, den er seit Jahrzehnten ausfüllt, verwachsen und identifiziert sich stark über die dazugehörige Uniform, die er auch nach Feierabend trägt. Als das gehobene Alter seinen körperlichen Tribut fordert, wird er von dem Hotelmanager zum Toilettenwart degradiert. Scheiternd in dem Versuch, seinen Statusverlust geheimzuhalten und von seinem sozialen Umfeld verlacht, findet der gefallene Held im Film doch noch ein versöhnliches Ende, durch das er nach einer überraschenden Erbschaft zum generösen Gast des Hotels wird.

Ist damit alles über diese Sozialparabel aus der Stummfilmzeit erzählt? Keinesfalls, denn für einen hervorstechenden Vertreter des deutschen expressionistischen Films sind die hier geschaffenen Bilderwelten das eigentliche Kriterium. Sich bewusst von einer realitätsgetreuen Darstellung Berliner Lebensumstände trennend, taucht Murnau lieber in die Wünsche seines Protagonisten ein, bleibt ihm stets auf den Fersen, selbst in dessen Träumen. Hier kann auch die entfesselte Kamera ihre Stärken ausspielen, wirbelt wild im Raum herum und fängt verzerrte Schatten an Wänden ein.

Diese fiebrigen Szenen des Films nutzen auch „Les Trucs“ aus, um ihr ganzes musikalisches Repertoire zum Vorschein zu bringen. Bild und Ton spielen im Gleichschritt groß auf und bewegen sich auf eine Klimax zu. Insgesamt orientieren sich die zwei Bandmitglieder Charlotte Simon und Zink Tonspur stark an dem Geschehen auf der Leinwand, vertonen dieses mehrfach auch in Worten synchron zum Bild. Beispielsweise lesen „Les Trucs“ die wenigen vor die Kamera gehaltenen Schriftstücke mit verfremdeten Stimmen vor. An anderer Stelle wird mit der Erwartung des Publikums gespielt, etwa wenn ein Klingelstrang im Film gezogen wird, und die beiden Musiker*innen eben diesen Moment auserkoren haben, um Stille walten zu lassen.

Dieses ironische Element haben „Les Trucs“ dem Film aber nicht hinzugefügt, es ist in ihm selbst enthalten. Das aufgesetzte Ende der Handlung, in welchem der tief Gefallene schließlich ganz oben ankommt, kann als Kritik an einem Kino verstanden werden, das glaubt, sein Publikum immer versöhnlich aus einem Film entlassen zu müssen. Eine maßlose Übertreibung schadet dann auch nicht mehr, sondern schärft den Blick. Oder in den Worten, die „Les Trucs“ für diese Schlusssequenz finden: „Wenn man sich schon Illusionen macht, dann aber richtig.“

Moritz Lentzsch

Zu sehen beim 9. LICHTER Filmfest Frankfurt International.