Der Kuckuck ist ein Brutschmarotzer. Das Weibchen legt ihr Ei in fremde Nester und die Wirtsvögel brüten dieses als ihr eigenes aus. Wenn das Junge geschlüpft ist, hat es durch seine Größe im Vergleich zu anderen Singvögeln einen wesentlichen Vorteil. Um von den fremden Eltern gut versorgt zu werden, wirft es nach und nach alle anderen Eier aus dem Nest. Tilman Singer bedient sich dieses Phänomens in seinem neuen Genrefilm „Cuckoo“.

Gretchen (Hunter Schafer) und ihre Patchworkfamilie, bestehend aus Vater Luis (Marton Coskas), Stiefmutter Beth (Jessica Henwick) und Halbschwester Alma (Mila Lieu), machen sich auf den Weg in die bayrischen Alpen, in ein neues Leben, welches alle näher zusammenbringen soll. Ziel ist das Resort „Alpenschatten“. Die pittoreske 70er-Jahre Anlage des Familienfreundes Herrn König (Dan Stevens) soll von Luis saniert werden und so einen zweiten Frühling erfahren. Gretchens leibliche Mutter ist vor kurzem gestorben, Luis verkauft das ehemalige Haus in den USA, weshalb die 17-jährige gezwungen ist, sich den neuen Umständen trotz großen Wiederwillens zu beugen.

Bereits der Name des Resorts lässt erahnen, dass die Idylle nur eine Scheinbare ist. Durch Kameraschwenks in den riesigen umgebenden Wald beginnt der Grusel langsam den Nacken hochzukrabbeln. Mit einfachen Horrorelementen, wie rüttelnden Türklinken, schafft es Singer, direkt nach der Ankunft im Alpenresort klarzumachen, in welchem Genre wir uns befinden. Recht schnell wird Gretchen und allen, die ihr dabei über die Schulter sehen, bewusst, dass vieles auf der Anlage einen merkwürdigen Touch hat. Warum müssen sich Frauen schlaftrunken in der Hotellobby übergeben? Warum will Herr König nicht, dass Gretchen nach 22 Uhr allein draußen ist? Was hat es mit der örtlichen Klinik für chronische Krankheiten auf sich?

Der Sound des Films spielt eine zentrale Rolle. Gretchen selbst ist Teil einer Band und setzt sich auch in Bayern ihre Kopfhörer auf, um mit dunklen Beats auf den Ohren ihrem Umfeld für ein paar Momente entfliehen zu können. Den hohen, schrillen Schrei des Kuckucks hören wir das erste Mal aus der Kehle ihrer vermeintlich stummen Stiefschwester Alma. Ihr Kehlkopf vibriert wie der Subwoofer eines Lautsprechers. Durchdringend, laut und allumfassend lässt uns das Geräusch die Luft anhalten. Auch das Filmbild beginnt zu flackern und verliert seine Stabilität. Alles gerät aus den Fugen und die Geschwister fallen in eine Zeitschleife, in der sich wenige Sekunden wiederholen, bis der Schrei endlich verstummt. Hypnotisierend wirkt er auf alle, die ihn vernehmen.

Die Zwischenwesen, die diesen Schrei ausstoßen, sind halb Mensch halb Kuckuck. Eingepflanzt in den Körper einer Wirtsmutter, ausgetragen als ein eigentlich fremdes Kind, sind sie Parasiten. Hinter all dem steckt Herr König, welcher in Kombination mit der Klinik diese Kuckucks-Perversion ausführt. Unklar bleibt seine Motivation. Er spricht zwar davon, dass dieser Parasit nicht aussterben dürfe, allerdings klingt dies als alleiniger Grund wenig einleuchtend. Auch erfahren wir nicht, wie das Ungeheuerliche seinen Anfang nahm und wessen Eier das erste Mal in den Körper einer unwissenden Frau gesetzt wurden.

Was wir aber erfahren, ist, dass Herr König Pärchen im „Liebesnest“ einchecken lässt, einem rosa Bungalow auf seinem Grundstück. Hier werden die Gäste durch Schreie der Kuckucke in einen Hypnosezustand versetzt, während die Zwischenwesen ihnen ihre Eier einverleiben. All das findet Gretchen an der Seite eines ehemaligen Cops (Jan Bluthardt) heraus, bis es zum knallenden, blutigen, beinahe Tarantino-artigen Showdown kommt.

Singer liefert einen seltenen deutschen Genrefilm, welcher mit einem herausragenden internationalem Cast auftrumpft. Geschätzt werden muss sein Mut und seine Kreativität, einen Horrorfilm in die bayrischen Berge zu setzen, um dort mit einer deutschen Kulisse und der ausgeflippten Kuckucksidee zu spielen. Ebenfalls glänzt das Setting: Villen und Alpenresort sowie Deutschlands Wälder und Berge empfehlen sich als zukünftige Grusel-Drehorte. Als visuelle Kirsche ergänzt Singer das Bild mit einem fehlerfreien 70er-Jahre Charme.

Allerdings scheint der Ideentopf auch ein wenig überzulaufen. Dass der Kuckucksschrei markerschütternd und somit hypnotisierend wirkt, funktioniert. Jedoch erscheinen die Zeitschleifen, in welche die Charaktere dadurch versetzt werden, als erdichtet und öffnen eine Ebene, die nicht hätte sein müssen. Auch die Figur des Herrn König und die Schwesternbeziehung hätten mehr Spielraum verdient. Und zuletzt gruseln die Kuckucks-Menschen zwar aus der Ferne, dafür umso weniger aus der Nähe.

Dennoch pustet der Film eine neue, wilde und kühne Frische in das deutsche Genrekino und auf die Leinwände. Die Bilder sind grandios und der Schrei des Kuckucks hallt nach. Im Wald wird sich ab sofort vielleicht zweimal über die Schulter gesehen.