„Favoriten“ ist der neue Dokumentarfilm der österreichischen Filmemacherin Ruth Beckermann, in welchem sie eine Grundschulkasse und ihre Lehrerin in einer Schule im gleichnamigen Wiener Stadtteil für drei Jahre begleitet. Mit einem kleinen Team, bestehend aus einer Kamera und einer Tonangel, porträtiert sie die Klassengemeinschaft anhand jeder Menge interessanter und fein beobachteter, schöner, aber auch nachdenklich stimmender Momente.
Bei der Prämisse fällt Maria Speths „Herr Bachmann und seine Klasse“ aus dem Jahr 2021 ein, bei dem es um die besonderen Lehrmethoden des Lehrers Bachmann geht, mit denen er seinen aus diversen kulturellen Backgrounds stammenden Schülern auf Augenhöhe begegnet, sie in Diskussionsrunden Meinungen formulieren lässt, durch Musik ihre Kreativität aktiviert und ihnen dadurch Selbstwert vermittelt, obwohl die schulischen Leistungsanforderungen den Kindern Probleme bereiten.
Auch in Beckermanns Film spielt die Klassenlehrerin Ilkay Idiskut eine zentrale Rolle. Sie sieht sowohl jedes Kind und nimmt sich Zeit, kann zugleich aber auch die gesamte Klasse animieren. Zum Spaß in einer Pause, doch genauso, um gemeinsam Probleme mit allen zu besprechen. Die Kamera ist dabei im Vergleich zu Herr Bachmann sehr viel näher an den Kindern dran und fängt Detailsituationen zwischen ihnen ein, von ganz verspielt bis zu kleinen Zankereien. Dadurch, dass die Kinder in diesem Fall einige Jahre jünger sind, kommt es durch das Verhalten der Kleinen zu mehr sorgenfreien lustigen Momenten, vor allem, wenn sie sich darin üben, zwischenmenschliche Probleme unter Anleitung ihrer Lehrerin wie Erwachsene zu klären. Schon in kurzer Zeit lernt man die vielen Kinder als eigene Persönlichkeiten kennen, und sie wachsen einem schnell ans Herz.
Neben den Situationen im Klassenzimmer wird auch der Schwimmunterricht begleitet, und zwei Ausflüge führen sowohl zu einer Moschee als auch Stephansdom. In diesem Abschnitt wird betont, dass beinahe alle Kinder in der Klasse Muslime sind, die schon vertraut sind mit den religiösen Bräuchen und sich auch bereits im Fasten probieren. Unfreiwillig komisch gestaltet sich der etwas verhaltene Besuch im Dom, bei welchem der Priester steif versucht, etwas über den christlichen Glauben zu vermitteln und nicht so recht zu überzeugen weiß.
Eine weitere Besonderheit bei dem Projekt ist, dass Beckermann die Kinder mit Smartphones ausgestattet hat, damit sie sich gegenseitig interviewen können zu Themen wie Kultur und Zukunftswünschen oder sich selbst filmen beim Spiel oder auf dem Heimweg. Bei diesen Momenten ohne Aufsicht der Lehrerin kommt es nochmal zu ganz eigenen Einblicken in die Gedanken der Kinder.
Doch die kindliche Unbekümmertheit ist auch in diesem Porträt begleitet von Problemen, die sich abzeichnen, wenn die Kinder von zuhause erzählen oder mit ihren Eltern zum Sprechtermin erscheinen. Die meisten kommen aus sozial schwachen Familien mit migrantischem Hintergrund. Die Väter arbeiten viel in schlecht bezahlten Jobs und haben wenig Zeit. Die Mütter sind Hausfrauen, viele schwanger und durch Sprachbarrieren nicht in der Lage, den Kindern bei Lerndefiziten zu helfen. Dies führt bei den Kindern zu schlechten Noten in den Schularbeiten und auf den Zeugnissen, was sie wiederholt in Tränen ausbrechen lässt. Die Situation wird erschwert durch mangelndes Personal an der Schule: Bei der Lehrerversammlung meldet der Direktor, dass weitere Schulsozialarbeiterinnen aufhören werden, durch Antritt neuer Stellen oder Schwangerschaft. So wird klar, dass die meisten der Kinder, die man hier kennengelernt hat, mit ihren ganz eigenen Charaktereigenschaften und Interessen, wenig Chancen haben werden auf eine höhere Schulbildung und gut bezahlte Arbeit.
Auch Klassenlehrerin Idiskut wird schließlich schwanger und muss die Klasse im laufenden letzten Schuljahr abgeben. Eine Nachfolgerin gibt es vorerst nicht. Weinend umarmen die Kinder ihre geliebte Lehrerin, und etwas abrupt endet der Film. Noch einmal verabschieden sich alle Kinder mit fröhlichem Blick, halten ein selbstgemaltes Bild in die Kamera und sagen ihren Namen.
Der etwas kürzere „Favoriten“ fügt noch weitere zwei Stunden Beschäftigungszeit zur eröffneten Thematik des dreieinhalbstündigen „Herr Bachmann“ hinzu – über das Schulsystem mit seinen Lehrer*innen und die Kinder, die es durchlaufen, um danach durchs Leben zu gehen. An die einzelnen Noten und Zeugnisse kann man sich im Nachhinein kaum noch erinnern, aber die Kinder aus „Favoriten“ wird man nicht so leicht vergessen.