Wie ist das eigentlich, blind zu sein? Für einige Sekunden schließe ich meine Augen, und höre Rabih dabei zu, wie er Geige spielt. Es ist, als würde er ihr seine Probleme erzählen, und obwohl ich nicht in der Lage bin, sie zu verstehen, verstehe ich, was er in diesem Moment durch die Sprache der Musik widergibt. Wild und ungehemmt streicht er über das Instrument und bändigt die Wirbelstürme, die in seinem Inneren wüten: Rabih hat erfahren, dass er adoptiert ist und erkennt, dass er eine Büchse der Pandora geöffnet hat. Seine Vergangenheit liegt im Verborgenen – irgendwo zwischen Lüge und Wahrheit.

In seinem ersten abendfüllenden Spielfilm TRAMONTANE erzählt Vatche Boulghourjian die Geschichte des blinden Musikers Rabih, der in einem kleinen Dorf im Libanon lebt. Da er mit seinem Chor auf Europatournee gehen möchte, muss er sich beim zuständigen Amt einen Reisepass anfertigen lassen. Die Beamten vor Ort stellen allerdings fest, dass sein erforderlicher Personalausweis eine Fälschung ist. Rabih ist gezwungen, Umwege einzuschlagen und versucht, an eine Geburtsurkunde oder andere Dokumente, die seine Identität bestätigen, zu kommen. Als sich zeigt, dass von ihm in offiziellen Akten und Aufzeichnungen keinerlei Spur vorhanden ist, gesteht seine Mutter ihm, dass er adoptiert wurde: Sein Onkel, der ehemalige Leiter eines militärischen Platoons, hat ihn, so erfährt Rabih, im Säuglingsalter nach der Zerstörung eines Dorfes als einzigen Überlebenden geborgen und seiner Schwester anvertraut.

Rabih wird während seiner Nachforschungen schnell klar, dass eine Menge Ungereimtheiten mit der Geschichte seiner Mutter einhergehen. So macht er sich auf eine Reise in seine Vergangenheit, redet mit dem Scheich seines vermeintlichen Geburtsdorfes, sucht alte Militärkollegen seines Onkels auf und hangelt sich von Hinweis zu Hinweis, von Person zu Person. Die ernüchternde Erkenntnis nach jedem Hoffnungsschimmer: „Wahrheit“ ist ein dehnbarer Begriff.

Drei Jahre lang plante Vatche Boulghourjian den Dreh und die optische Gestaltung von TRAMONTANE. Der Film nimmt uns mit in das Leben eines Blinden und schafft dem Publikum in vielen Szenen Zugang zu Rabih. Oft werden wir bei minimaler Beleuchtung mit ihm alleingelassen, sehen die Welt quasi durch seine blinden Augen und beobachten, wie er bei vollkommener Dunkelheit in der Küche sitzt und isst oder ein Buch „liest“ – Situationen, in denen Sehende hoffnungslos verloren wären.
Das prägnanteste und prominenteste visuelle Stilmittel des Filmes ist die extrem geringe Tiefenschärfe im Großteil aller Einstellungen. Meist bekommt man die Umgebung nur in einem Tastradius zu sehen, alles darüber hinaus ist verschwommen und unklar. Treffend evoziert Boulghourjian die Kurzsichtigkeit des blinden Protagonisten und setzt das Publikum in eine nebulöse Welt, beraubt es seiner Orientierung.

Es ist fast etwas ironisch, dass TRAMONTANE bisweilen selbst die Orientierung fehlt. Die Handlung des Filmes beginnt stark und bietet fesselnde Einblicke, neue Erkenntnisse und spannende Wendungen. Im Laufe von Rabihs persönlichen Ermittlungen kommt sie jedoch mit jeder weiteren Station stärker ins Wanken und beginnt schließlich, sich sehr zu ziehen. So hören wir zwar mehr und mehr widersprüchliche Erzählungen zu seiner Herkunft, erfahren aber doch nichts, das wir nicht irgendwie schon wissen. Der Film verläuft sich in einer Formel und verpasst die konsequente Weiterentwicklung der Geschichte und seiner Charaktere.

Mit gut 100 Minuten Spielzeit verkraftet TRAMONTANE die Längen im Mittelteil jedoch und ist gerade wegen seines starken Beginns und des hervorragenden Schlussteils schließlich wirklich gelungen. Das Thema „Wahrheit“ wird im Rahmen unzuverlässiger Erzählungen souverän aufgegriffen und sehr stimmig mit dem persönlichen Schicksal des Protagonisten verwoben. Die Geschichte des blinden Jungen Rabih wird greifbar wie authentisch erzählt, und hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet.

von Benjamin Dogan

Gesehen beim 10. LICHTER Filmfest Frankfurt International im internationalen Wettbewerb zum Thema „Wahrheit“.