Wann ist eine Tat richtig und gut? Wann ist sie moralisch? Die Lehrerin Nadentze scheint in „Urok“, gezeigt im Rahmen des „goEast“-Filmfestivals 2015, auf diese schwerwiegenden Fragen zunächst eine klare Antwort zu haben. Ihren Schülern will sie vermitteln, dass das Stehlen eines Geldbeutels sicher nicht auf dem Weg liegt, den ein mündiger, moralischer Mensch geht. Sollte man doch einmal ein paar Schritte davon abgekommen sein, muss man wenigstens im Nachhinein zu erkennen zu seinen Taten stehen, meint sie. Die Schüler kommentieren diesen Appell mit ausweichenden Blicken und Schweigen.

Im Debütfilm des Regie- und Drehbuchduos Kristina Grozewa und Petar Valchanov wird die Frage der Moral von da an eine Tour de Force durch eine finanziell zerrüttete Gesellschaft, bei der die Protagonistin Nadentze durch Unaufrichtigkeit, Korruption und bisweilen einfach nur Pech bis an den Rand ihrer Kräfte gebracht wird. Sie steht am finanziellen Ruin. Ihr Mann trinkt, trägt Jogginghosen und kauft, statt einen Kredit abzuzahlen, lieber ein teures Ersatzteil für einen kaputten Wohnwagen, den er weder reparieren noch verkaufen kann. Der Schein der Ordnung, den Nadentze dennoch zu wahren versucht, die gebügelten Blusen und die Schulhefte, die sie Kante auf Kante legt, helfen nicht, als es plötzlich heißt, sie müsse in nur drei Tagen eine große Summe Geld auftreiben, um ihr Haus vor der Zwangsversteigerung zu retten. Zweifel schleichen sich in Nadentzes festen Blick, ihr moralischer Weg ist steinig – vor allem, wenn ihr darauf zwielichtige Geldverleiher begegnen, die ihr eröffnen, ihre Schulden können nur gegen sexuelle Gefälligkeiten gestundet werden.

Margita Gosheva liefert eine Performance von bemerkenswerter Präzision, wenn sie die willensstarke Lehrerin verkörpert, die stoisch ihr Bestes tut, um sich im Malstrom der Schulden über Wasser zu halten. Kühl und komplex wirkt die Figur, die zwischen Stolz und Existenzangst um ihre Würde und die Sicherheit ihrer Familie kämpft. Die Weitwinkelaufnahmen der bulgarischen Landschaft sind von poetischer – und umso bitterer Schönheit. Grozewa und Valchanov bieten als harten Kontrast dazu Dialoge, die so trocken und unverblümt bleiben, dass man daran zu schlucken hat: Nadentzes Klumpen Unwohlsein im Magen wird zum Blei im Magen der Zuschauer.

Nadentze lernt in „Urok“, einer bulgarisch-griechischen Koproduktion, am Ende ihre Lektion. Bis zum Schluss bleibt sie Lehrerin: der größte Teil des Frankfurter Festivalpublikums ist der Schulbank zwar mittlerweile entwachsen, trotzdem sieht man an den nachdenklichen Gesichtern der Zuschauer, die sich nach der Vorführung vom Filmmuseum in Richtung Bahnhof begeben – an den Bankgebäuden vorbei – dass man im Zeitalter der Finanzblasen aus ihrem Schicksal etwas lernen kann.

(Berichterstattung im Rahmen des goEast Filmfestivals 2015)

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