Nächste Haltestelle: Newski Prospekt. Leningrad, 1973, 7:53 Uhr.

Die Menschen auf dem Weg zur Arbeit sehen wie Zombies im Halbschlaf aus. Die Tramfahrerin erzählt, dass sie manchmal versucht mit offenen Augen zu niesen, damit sie in der Zwischenzeit niemanden überfährt. „Aber manchmal warte ich auf eine rennende Frau und fahre plötzlich los, bevor sie die Tür erreicht. Die sollen sich früher überlegen, ob sie mitfahren wollen oder nicht“, kichert sie.

Ich lache bei dieser Szene aus dem Dokumentarfilm THE TRAM RUNS THROUGH THE CITY in staubigem Schwarzweiß. 22 verträumte Minuten mit versteckter Kamera gefilmt, als sei man selbst Passagier in der Leningrader Tram, dazu die Stimme der Fahrerin Ludmila Grigoryevich – mehr gibt es nicht zu sehen und hören, auch wenn der Wagen manchmal in der Kurve holpert und jemanden aus dem Halbschlaf reißt.

Nächste Haltestelle: Dern’sches Gelände. Wiesbaden, 2017, 16:04 Uhr.

Mein historisches Interesse am Blick jenseits von Helden- oder Ostblock-Propaganda auf die Stadt der Oktoberrevolution ist das eine. Aber ein weiterer Grund dafür, mir im Kinos anzuschauen, was ich tagtäglich selbst erlebe und daher zunächst langweilig klingt, ist die Macht des Medium Film, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen herauszuheben.

Alltagspoesie kann überall entstehen, wo die Augen dafür geöffnet sind. Besonders mit der geflüsterten Geschichte derjenigen Menschen im Ohr, die den Alltag erst alltäglich machen. Leider neigt eine kapitalistische Gesellschaft dazu, Muße und Traum auf dem Altar des Zweckrationalismus zu opfern.

Nächste Haltestelle: Irgendwo. Irgendwann.

Ständig in Bewegung. Ohne Ziel, reiner Selbstzweck. Trotzdem folgen wir einem vorgefertigten Weg. Die einen hetzen zur Arbeit, die anderen sitzen herum und schauen zu. Wir lauschen dem Leben. Die Gebäude fließen an uns vorbei. Ab und zu holpert es.

Der Film zeigt nicht viel, das lässt den Gedanken freien Raum. Er verbleibt auf den Gleisen, das verführt zum Herumblicken. Und 22 Minuten sind gerade die Höchstgrenze für eine Tramfahrt.

Nächste Haltestelle: Newski Prospekt?

Endstation. Bitte alle aussteigen.

von Thomas Robak

Gesehen beim 17. GoEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films  als Teil des Symposiums „Feministisch wider Willen – Filmemacherinnen aus Mittel- und Osteuropa“.