Die Sonne flirrt durch die geviertelten Scheiben eines staubgelben Fensters, der Blick schweift hinaus auf das Meer. Dazwischen dunkle Kreuze, lautes Schweigen und ein Spiegelbild. „Ich bin nichts“, flüstert man sich gegenseitig zu: Dass Ewa niemals wirklich Schuld war, zweifelt niemand an. Dass Bruno sein Scheitern schon immer ahnte, steht außer Frage. Wem schlussendlich vergeben wird, weiß niemand.

Ellis Island im Jahre 1921: Wellen von Flüchtlingen aus Europa strömen nach New York auf der Suche nach Perspektive und Sicherheit. Viel hat man ihnen über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten erzählt, viel über den Amerikanischen Traum berichtet. Ewa (Marion Cotillard) und ihre Schwester Magda (Angela Sarafyan) werden direkt nach der Ankunft am Knotenpunkt getrennt: Magda hat Tuberkulose und darf nicht einreisen. Statt in die große Freiheit führt ihr Weg in ein Krankenhaus. Ewa droht sogar die Deportation zurück nach Polen. In letzter Sekunde ermöglicht ihr der undurchsichtige Bruno (Joaquin Phoenix) eine Unterkunft im Lower East End. Schon bald zwingt er sie mit subtilem Druck zur Prostitution. Ewa kann sich nicht wehren, sie braucht Brunos Geld, um die kranke Schwester freizukaufen. Bei einem Fluchtversuch lernt sie den charmanten Magier Orlando (Jeremy Renner) kennen, der ihr zu neuem Mut verhilft. Doch noch immer kann sie Bruno nicht entkommen, zwischen ihnen entwickelt sich ein widersprüchliches Geflecht aus Zuneigung, Hass, Abhängigkeit und Liebe.

James Grays neuer Langspielfilm „The Immigrant“ ist eine ambitionierte Hommage an die klassische Ära des Fünfziger-Jahre-Kinos, an sepiagefilterte Stadtaufnahmen und unaufgeregte Bildpoesie. Das Drama bewegt sich zwischen ferner Nähe und naher Ferne: Imposante Totalen halb verfallener Gebäude machen die Menschen klein und unbedeutend, Streiflicht blitzt zwischen Silhouetten in klaustophobischen Gewölben. Dann wieder ein zögernder, beinahe schüchterner Schwenk über Cotillards Gesicht. Die Kamera liebt ihre feinen, keuschen Züge, fängt jede Linie der Naivität mit ausgiebigen Detailaufnahmen ein. Der Zuschauer fühlt sich ihr mit einen Atemzug verbunden, sieht jedes nervöse Zucken einer Augenbraue mit klinischer Genauigkeit. Phoenix bleibt dagegen weit entfernt, erst in seiner letzten verletzlichen Zuwendung wird auch er ansatzweise erreichbar. „Fass mich nicht an“, schreit Ewa zu Beginn, initiiert niemals eine Berührung, erlebt nicht, wird erlebt. Am Ende ist es bloß eine gehaltene Hand, eine zögerliche Geste, vielleicht sogar Vergebung. Der stillste aller Momente zwischen Cotillard und Phoenix, diese Nähe kurz vor dem Abschied, der Ferne, sagt alles aus, was es zu sagen gibt.

Trotz der dichten Atmosphäre fehlt es dem Film doch an Spannung, an interessanten Figuren und thematischer Stringenz. Bis auf die letzte halbe Stunde, in der das Drama plötzlich überrascht, ist der 117-minütige Spielfilm redundant. Die Figuren in „The Immigrant“ sind zudem viel zu eindeutig, zu wenig grau. Aus dieser beschränkenden Vorgabe holen die Schauspieler das Bestmögliche heraus. Am schwächsten bleibt dabei Jeremy Renner als Sympathiefigur Orlando, der mit kohlschwarz umrandeten Augen und Kleinjungengrinsen nicht nur Ewa aus der Starre reißt. Mit seinem Auftreten gewinnt der Film an Intelligenz und Humor, aber auch an Vorhersehbarkeit. Ambivalent ist Orlando nur abseits der Leinwand, seine jähzornige Trunkenheit wird bloß erwähnt, nie gezeigt.

Joaquin Phoenix‘ Figur Bruno ist manchmal pathetisch, meist erbärmlich, ein zögerlich lächelnder Verlorener, der seinen desillusionierten Wahnsinn mit Starre unterdrückt. In manchen Momenten scheitert die Darstellung an dieser Vielschichtigkeit, seine zu großen Gesten brechen sich an Cotillard Verhaltenheit. Doch gerade in den letzten Szenen weiß Phoenix zu beeindrucken. Aus dem Ekelmenschen Bruno wird plötzlich ein bemitleidenswert Gescheiterter, der sich mit letztem Willen an etwas festgehalten hat, was ihm doch entgleiten muss. Im Gegensatz dazu spielt Cotillard beinahe zurückhaltend und scheu, ihre Naivität und Reinheit kontrastiert mit der dreckverstaubten Stadt.

Am stärksten ist „The Immigrant“ in seinen letzten Zügen: Nach grauen Kellergewölben und engen Gassen bleibt im Blick aufs Meer die Hoffnung auf Weite, vielleicht auf Freiheit, sicherlich auf Neuanfang. Der Kreuzgang des perspektivlosen Brunos, Ewas Flucht aus dem gescheiterten Traum: Es ist ein sekundenlanger Abschied mit verzweifelt festhaltenden Gesten. Vielleicht haben sich die beiden am Ende doch noch gegenseitig gerettet, trotz ihres Hasses, trotz seiner Wut.