Schon der Titel setzt einen gewissen Ton, eine Grundstimmung, mit der wir uns in den Film hineinbegeben, der sich viel mit seinem Publikum vorgenommen hat. Tatsächlich tischt uns Joachim Trier mit seinem neusten Werk eine kritische Bestandsaufnahme der derzeitigen Kultur bzw. Popkultur auf, gibt einigen Stoff zum Nachdenken über seine virtuos inszenierten Tabubrüche, die er in eine Geschichte von 12 Kapiteln inklusive Prolog und Epilog verpackt. Aber von vorn. Julie (Renate Reinsve), eine Frau in ihren frühen Dreißigern, hat zuerst Schwierigkeiten, ihren Weg ins Leben zu finden – aus einem hochambitionierten Medizinstudium löst sie sich, interessiert sie sich doch vielmehr für die Seele, wie sie sagt. Mit dem Entschluss stellt sich ihr Leben auf den Kopf, sie wird Fotografin und lernt den älteren, etwas verstaubten Comic-Zeichner Aksel (Anders Danielsen Lie) kennen, in den sie sich verliebt, als er ihr gesteht, dass es mit ihnen beiden niemals klappen könne, aufgrund ihrer Altersdifferenz und der grundunterschiedlichen Lebensphasen, in denen sie sich befänden.

Schnell stellt sich die Kinderfrage, und Aksel versucht Julie, vehement diese eine Perspektive schmackhaft zu machen. Doch Julie hat andere Pläne für ihre Zukunft, sie will Zeit, Freiheit und Unabhängigkeit. Gar nicht moralisierend legt Trier den Blick auf die großen brennenden Fragen unserer Zeit frei: Sexismus, Gleichberechtigung, männliche Privilegien, auch Klimawandel und westliche Privilegien – das Angenehme daran und für mich völlig neu, ist, dass der Film unverkrampft nach Feminismus schreit und ohne die Schuldfrage auskommt. Julies Sexualität findet eine natürliche Einbettung, auch hier fordert Trier die Sehgewohnheiten des Publikums heraus – dreht den male gaze geschickt um und stellt die weibliche Lust in den Vordergrund. Julie bleibt nicht bei Aksel, sondern zieht mit Eivind (Herbert Nordrum) zusammen, den sie auf einer Hochzeitsparty kennengelernt hat, zu der sie sich selbst eingeladen hat. Ihr Kennenlernen, die beidseitige Anziehung, die von Anfang an da ist, baut sich über einen langsamen Spannungsbogen auf, der das Publikum mit erregen soll. Trier erzählt in einer Weise, die eine eigene originelle Handschrift trägt und mit Mitteln des Time Freeze und Montagen arbeitet, dabei stets in der modernen Welt verhaftet bleibt, aber durch die jahrhundertealten Themen etwas Überzeitliches hat. Julies Leben gleicht einem Chaos, als sie beinahe gleichzeitig erfährt, dass sie schwanger und ihr Ex Aksel unheilbar an Krebs erkrankt ist.

Aksel und Julie söhnen sich aus, sie sei die bedeutendste Beziehung in seinem Leben gewesen und ein guter Mensch. Es wird angedeutet, dass Julie ihr Kind verliert und zu ihrem Ausgangspunkt der Fotografie zurückkehrt. Poetische Bilder im frühen Morgengrauen, die Oslo in seichte Farben tauchen, geben Kontext für die wahnsinnig tiefgründigen Fragen, mit denen uns Trier nach dem Film allein zurücklässt. Damit haucht der Film den Worten des dänischen Existenzphilosophen Søren Kierkegaards neues Leben ein, der einst sagte: „Zu wagen bedeutet, für einen Moment den Halt zu verlieren. Nicht zu wagen bedeutet, sich selbst zu verlieren.“ Erstaunlich, wie gut alte Fragen zu neuen Zeiten passen.

Emilia Palancares