Moskau im Sommer, Regen im Juli. Marlen Khutsiev betrachtet in Juliregen / Iyulskiy dozhd die aufstrebende Tauwetter-Generation mit einem gleichsam neugierigen und kritischen Blick.

Es bedarf des Zufalls, dass sich aus der anonymen Masse einige der Passanten herausschälen, um unter einem Dach Zuflucht vor einem heftigen Regenschauer zu suchen, und dabei ins Gespräch kommen. Wie lange das wohl noch dauert, fragt eine Frau, die sichtlich unter Zeitdruck steht. Sicher noch eine Weile, entgegnet ihr ein Mann und bietet ihr an, ihr seine Jacke zu leihen. Auf die Frage, wie sie ihm diese zurückbringen soll, bittet er nach ihrer Telefonnummer, alles weitere wird sich so schon klären lassen. Die Frau hastet zurück in den Regen, verschwindet, doch ein erster Kontakt ist hergestellt.

Die Frau heißt Lena (Evgeniya Uralova) und sie ist in gewisser Weise die Nachfolgerin der Protagonisten aus Marlen Khutievs vorherigem Film Ich bin zwanzig / Mne dvadtsat let (1961). Lena ist 27, sie studiert und arbeitet nebenher in einem Druckerpresswerk. Auch der intelligente und erfolgreiche Volodya (Aleksandr Belyavskiy) ist Teil ihres Lebens. Lena überlegt, ihn zu heiraten – an dem „Ort, der Leute glücklich macht“, wie die beiden immer wieder scherzhaft sagen – doch so richtig ist sie nicht bereit, ihre Unabhängigkeit aufzugeben. Die eingangs erwähnte Begegnungsszene im Regen entspinnt dabei eine sanfte Neben- oder Gegengeschichte, die uns den ganzen Film über begleitet: Aus dem flüchtigen Aufeinandertreffen entwickelt sich eine Art Telefonfreundschaft zwischen Lena und dem Passanten, sie tauschen sich über ihre Leben aus und genießen die Möglichkeit, nah aber doch distanziert voneinander zu sein.

In Juliregen / Iyulskiy dozhd (1966) gelingt es Khutsiev, mit präzisen, scheinbar alltäglichen Beobachtungen, ein Bild Moskaus Mitte der 60er Jahre zu entwerfen. Wir begegnen einer jungen Generation, die an der öffentlichen, politischen Sphäre vorbei Freiheiten sucht und sich dabei nach und nach ins Private und Individuelle zurückzieht. Immer wieder gleitet die Kamera aus diesem Grund durch Wohnungen, detailliert beobachtet sie mal eine Party-, mal eine Trauergesellschaft. Wir sehen oft Menschen, die über die verschiedensten, oftmals banalen Dinge diskutieren, gemeinsam essen oder Ausflüge ins Grüne veranstalten.

Khutsiev geht dabei äußerst variabel mit der filmischen Form um: Schnelle Montagesequenzen treffen auf Musik aus dem Radio, welches über die Laufzeit des Films kontinuierlich die Sender zu wechseln scheint, und so einen rasanten Rythmus erzeugt: Pop trifft auf klassische Musik, die wiederum von Stimmfetzen eines Nachrichtensprechers unterbrochen werden. An einigen Stellen aber, als eine Art Gegengewicht, kommt die Kamera zur Ruhe: Kamerafahrten durch die Straßen Moskaus schaffen kurze Momente der Aufhebung und Stillstellung. Wir sehen Häuserfassaden, Autos und immer wieder Straßenbahnschienen, die den Himmel zerteilen. Es ist, als würde der Film hier aus dem Geflecht der freundschaftlichen Beziehungen heraustreten, um Distanz zu schaffen und Zustände zu reflektieren.

Diese Stillstellung stehen in Verbindung zu den vielen dokumentarischen Elementen in Khutsievs Film: Gegen Ende löst sich die Kamera von Lena und begibt sich wieder in die Straßen, in das öffentliche Leben. Wir sehen Aufnahmen von Jugendlichen, die für eine Weile in die Kamera blicken. Scheinen sie anfangs noch entschieden oder mutig, schleicht sich schon bald Verunsicherung in ihre Gesichter. Einige der Jungen lachen, doch die meisten entgegnen der Kamera einen fragenden Blick. Und es ist dieser Moment des Zweifels, des Unentschiedenen mit dem Juliregen / Iyulskiy dozhd endet: Der anfängliche Optimismus, der sich im Zusammensein artikuliert hat, wird so nach und nach von einem Zustand der Melancholie und Skepsis, angesichts der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Zeit, abgelöst – was bleibt, ist die gelebte Gegenwart und der fragende Blick in die Zukunft.

(Berichterstattung im Rahmen des goEast Filmfestivals 2015)

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