Es beginnt immer wieder von Neuem. Nackt auf dem Boden liegend, umklammert eine Frau eine blonde Haarsträhne. Um sie herum fünf Männer mit schwarzem Gewand. Tanzend folgen die Männer der Frau, sobald sie das Haus verlässt. Gemeinsam stimmen sie einen persischen Gesang ein. Auf den Münchener Straßen läuft alles verkehrt herum, und so findet Narges Shahid Kalhor wieder mal ihren Weg zum Kreisverwaltungsreferat.
In Narges Kalhors autobiographischem Spielfilm SHAHID (2024) geht es um ihren persönlichen Umgang mit der Vergangenheit. Inwiefern verfolgen sie die Geister des iranischen Regimes ins Exil? Und welche Maßnahmen trifft eine asylsuchende Person, um sich von ihrer Familienvergangenheit zu lösen?
Bei ihrem täglichen Besuch beim deutschen Amt versucht Narges, das SHAHID aus ihren Nachnamen zu streichen. Das Wort bedeutet „Märtyrer“ im Persischen. Der Urgroßvater der Regisseurin wurde in einer Revolution für den Glauben ermordet und als Märtyrer im Namen seiner Nachfahren verewigt. Genau dieser Geist des Urgroßvaters und seiner Mullahs ist es, welcher Narges in München nicht zur Ruhe kommen lässt. Sie möchte mit diesem Teil ihrer Familiengeschichte nichts zu tun haben.
Für den Umgang mit ihrer Vergangenheit steht zum einen die deutsche Bürokratie im Weg. Im Amt formen Worte wie „MELDEBESCHEINIGUNG“ und „LICHTBILDAUSWEIS“ eine gigantische Mauer auf der Leinwand, und täglich muss sich Narges mit irgendwelchen neuen Dokumenten und Gutachten herumschlagen. In ihrer Therapie läuft es auch nicht besser, hier wird versucht, Narges eine Möglichkeit zu geben, mit ihrem Namen umzugehen, obwohl sie SHAHID bewusst streichen möchte. Narges ist auf der Suche nach dem Passierschein a38, sie befindet sich in einer Schleife.
Zunehmend empfinden auch die Schauspieler:innen die Bemühung von Narges, einen Film über ihren Namenswechsel und ihre Familiengeschichte gleichzeitig zu machen, als mühsam. SHAHID spielt mit einer Meta-Ebene. Die Regisseurin Narges Khalor gibt aus dem OFF Regieanweisungen und diskutiert mit der Schauspielerin Baharak, die Narges Khalor spielt. SHAHID zieht somit die Zuschauenden bewusst aus ihrer konstruierten autobiographischen Fiktion heraus und schafft eine zweite Erzählebene, die des Filmdrehs selbst.
Je länger der Film dauert, desto experimenteller wird er. Kein Stilmittel kommt zu kurz. Slow Motion, Doppelbelichtung, CGI, Greenscreen, KI und sogar Puppen finden alle ihren Platz. Und so springt die Inszenierung von einer dramatischen Szene, in der eine Familie abgeschoben wird, zu psychedelischen Abschnitten, die teils komödiantisch wirken. Und zwischendrin findet sogar nochmal ein anderer Film von Narges aus dem Jahre 2009 über ihr damaliges Asylheim Platz. Dazu gibt es Einschübe mit persischer Miniaturmalerei, die lebendig wird, um den geschichtlichen Kontext für den Iran zu geben.
Alle diese Sprünge wirken zunehmend überwältigend. SHAHID will viel und macht viel. Leider fühlt es sich stellenweise so an, als würde Narges selbst den roten Faden verlieren. Die Schauspielerin Baharak hat einen fairen Punkt, wenn sie zu Narges sagt: „Mach entweder einen Film über deinen Namen oder über deinen Urgroßvater, zwischen denen rumzuspringen, ist scheiße.“ Werden zu Beginn noch die Schwierigkeiten nicht-deutscher Personen in Deutschland dargestellt, verflüchtigt sich dieser Anspruch im Verlauf des Films.
Nichtsdestotrotz schafft Narges Kalhor mit SHAHID eine außerordentlich kreative und reflektierte Perspektive auf ihre Migrations- und Familiengeschichte. Neben der persönlichen Geschichte wird die Aufmerksamkeit auch auf größere Themen wie Frauenrechte im Iran und Unterkunftsbedingungen von Asylsuchenden in Deutschland gerichtet. Wie eine Spotify-Playlist auf Shuffle sorgt SHAHID für Freude, Kummer, Explosivität und Ruhe gleichzeitig.