Antigone ist oft Schullektüre an unseren Gymnasien. Welche Stärke und Schönheit Sophokles’ Text entfaltet, ist mir aber erst durch Athena Mathious Rezitationen im Film wieder bewusst geworden. Welche Bedeutung hat das Stück für Sie, dass Sie es als Gerüst für Ihren Film gewählt haben?
Das Stück bietet mit seinem wunderschönen Text eine perfekte Allegorie für die aktuelle Situation in Griechenland. Antigone spricht mehrmals während der Tragödie über die Sünden ihrer Eltern, für die sie jetzt vom Schicksal unschuldig bestraft wird. Genau so fühlen sich Leute meiner Generation in Griechenland. Es gibt eine ältere Generation, die gesündigt hat, und eine neuere, die keine Schuld daran trägt, aber im Namen der Vorfahren bestraft wird: “To such parents do I owe my wretched birth, now cursed and unwed I go to find them“.
Im Abspann erwähnen Sie unter anderem Judith Butler. Welche Rolle spielte deren Interpretation des Antigone-Stoffes für Ihre eigene Herangehensweise?
Mich interessierte die Interpretation von Butler in ihrem Buch „Antigones Verlangen“. Sie sieht die Antigone-Figur als Ansatz für die Auflösung der nuklearen Familie, als Symbol der Überschreitung der Normen der Verwandtschaft und der Geschlechterzugehörigkeit. Gerade das Inzest-Thema spielt bei Antigone eine sehr zentrale Rolle. Sie ist gleichzeitig Tochter und Schwester von Ödipus, Eurydike ist gleichzeitig ihre Mutter und Großmutter, Polyneikes und Eteokles sind ihre Brüder und Cousins und so weiter. Dass die Hauptfiguren meines Films mehrere oder keine klaren Rollen in der Familie und der Gesellschaft besitzen, wird im ganzen Film, besonders im ersten Kapitel, deutlich.
Antigone repräsentiert nicht Verwandtschaft in ihrer idealen Form, sondern deren Deformation und Verschiebung. Eine Verwandtschaft, die die Herrschaftssysteme der Repräsentation in eine Krise stürzt, indem sie die Frage aufwirft, durch welche Verwandtschaftsverhältnisse Antigones eigenes Leben zustande gekommen ist.
Sobald man die Verwandtschaftsstrukturen hinterfragt, löst man langsam alle Strukturen auf, auf denen sich der patriarchale Staat gebaut hat.
Neben den Theater-Szenen enthält QUEEN ANTIGONE immer wieder ausdrucksstarke Tanzsequenzen und am Ende eine wunderbare Szene, die stark an einen alten Stummfilm erinnert. Was war die Idee dahinter?
Ich hasse Kunst, die sich zu ernst nimmt. Mein Film hat schon ein sehr ernstes Thema und erzählt eine äußerst tragische Geschichte im heutigen Griechenland, deshalb wollte ich unbedingt leichtere, humorvollere Intervalle hinzufügen. Dazu gehören die wörtlichen sowie körperlichen Kommentare des Chors, die bunte, leicht kitschige Kleidung der Protagonistin und auch die Schlussszene. Die vorletzte Szene ist der Höhepunkt meiner modernen Tragödie und die letzte das Gegengewicht, um eine Balance zu finden. Inspiriert ist sie von der Stummfilmzeit und von Jack Smith’s Experimentalfilmen, insbesondere „Flaming Creatures“.
Kurz vor der Flucht der Geschwister gibt es eine traumartig anmutende Szene, in der die Hauptdarstellerin bei einem Theater-Casting für die Rolle der Antigone vorspricht, diese aber nicht bekommt – wie Elvis, der bei einem Lookalike-Contest nur den dritten Platz belegt. Erkennen wir die Antigones nicht, wo sie uns begegnen?
Ich glaube, dass während großer Krisen die Opfer keine Stimme haben bzw. diese nicht gehört wird. Erst nach dem Sturm sieht man die Katastrophe wirklich und die Gesellschaft kann das Leid der Menschen nachempfinden und geschichtlich einordnen.
In dem Sinne ja: Es gibt heutzutage in Griechenland zahllose Opfer eines Schicksals, das sie nicht kontrollieren können und an dem sie keine Schuld tragen.
Der Film wirkt wie eine Liebeserklärung an Ihre Hauptdarstellerin Athena Mathiou, mit der Sie gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben. Wer war zuerst da und wer wurde gecastet, Antigone oder Athena?
Die ganze Figur und vielleicht der ganze Film ist von Athena Mathiou und unserer Freundschaft inspiriert. Antigone trägt das Kostüm von Athena und nicht umgekehrt. Das war mein Ansatzpunkt und alles andere kam danach.
In ihrem Gesicht erkenne ich gleichzeitig eine alt-griechische Karyatis, eine femme fatale der 1940er und ein Provinzmädchen der griechischen Küste, und das finde ich faszinierend.
Warum tritt Kreon immer nur als Politikerstimme im Radio oder Fernsehen auf?
Hier geht es um die Autorität. Um die Repräsentation des allmächtigen, neofaschistischen Regimes, das Griechenland in den letzten Jahren gewesen ist. Die Stimme im Radio und im Fernsehen ist die Stimme von Antonis Samaras, der bis Januar 2015 Griechenlands Premierminister war. Er hat nicht nur für sich selbst gesprochen, sondern ein ganzes Unterdrückungsregime repräsentiert, das (mindestens) in den letzten fünf Jahren die Menschen geopfert hat, um die Banken und die Eliten im In- und Ausland zu retten. Seine Regierung hat ganz gezielt rechtsextreme Elemente in den politischen Diskurs eingeführt, um das Volk und die Politik zu desorientieren und nationalistische Gefühle zu wecken. Zum Glück sind diese Pläne zum Teil gescheitert und die Linkspartei SYRIZA ist seit zwei Monaten an der Regierung. Es bleibt nun abzuwarten, was sie machen und was in der nächsten Zeit passiert.
In Polyneikes meint man Züge von Nabokovs bzw. Kubricks Lolita und in Antigone den Signaturestyle von Amy Winehouse wiederzuerkennen. Welche Einflüsse stecken tatsächlich in den beiden Hauptfiguren?
Die Vergleiche gefallen mir sehr. Lolita ist einer meiner Lieblingsfilme und Amy Winehouse eine Legende. Es kommt aber noch vieles hinzu. Vor allem dachte ich immer wieder an bestimme Filme und Regisseure und nicht so sehr an spezifische Figuren. Das Werk von Michelangelo Antonioni und Gregory Markopoulos hat mich für QUEEN ANTIGONE ganz stark beeinflusst und wenn man aufmerksam hinguckt, kann man wohl auch einige rekonfigurierte Elemente von Pedro Almodóvar erkennen.
Walter Benjamin hat gesagt: „Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos.“ Ist die (nicht zuletzt künstlerische) Arbeit am Mythos heute dringender denn je?
Ja. Antigone gilt als Prinzip des weiblichen Widerstands gegen staatlichen Dirigismus und als Musterbeispiel für eine antiautoritäre Haltung. Das ist nach meinem Dafürhalten ein Mythos, der immer aktuell sein wird, gerade in Zeiten der Krise.
Besonders berührend sind die beschwörungs-, beschimpfungs- und gebetsartigen Sprachspiele der beiden Geschwister wie z.B. das ritualisierte You are worse than me….
Warum diese brutale Form der Liebeserklärung?
Der höchste Grad von Liebe und Intimität ist vielleicht, wenn man ganz ehrlich aussprechen kann, was man der anderen Person gegenüber empfindet. Was man denkt – auch die negativen Sachen. Das ist natürlich nicht einfach, deshalb könnte man, wie die zwei Geschwister im Film, eine Art Spiel erfinden, in dem man diese Brutalität verschleiern kann: “You’re worse than me, because…“.
In dem Spiel versteckt sich aber auch ein Geschlechterkampf zwischen den beiden: Eine Frau, die unter anderem die Rolle des Mannes in der Familie übernimmt und ein Junge, der sich nicht in der Binarität der Geschlechter einordnen lassen will.
Junge: “You’re worse than me, casue you have small tits.“
Frau: “You’re worse than me, cause you have no tits.“
Die Schwester findet im Sophoklestext eine Art Drehbuch ihres eigenen Lebens. Dabei wird sie immer tiefer in die Identifikation mit Antigone hineingezogen. Der Bruder merkt, dass ihm die Schwester abhandenkommt und wirft das Buch schließlich ins Meer. Handelt ihr Film auch in dieser Hinsicht von der enormen Wirkung, die Worte auf unser Leben ausüben können?
Ja, im Film geht es um einen Mangel oder eine Lücke von Wörtern, die mit dem Antigone-Text gefüllt wird. Die Hauptfigur im Film ist eine Frau, die keine Chance auf eine ordentliche Ausbildung hat. Ihre soziale und politische Umgebung hat ihr Schritt für Schritt die Denkwerkzeuge weggenommen und die Bedeutung der Wörter verzerrt. Wenn sie in ihrer Verzweiflung den Antigone-Text entdeckt, öffnet sich plötzlich für sie eine Tür. Eine Tür der Emanzipation.
Interview im Rahmen des Lichter Filmfests im März 2015