Die Studierenden des 1. Workshop der Kritik beim 17. goEast Filmfestival in Wiesbaden wollten Filmkritik-technisch gerne neue Wege beschreiten und neue Formate ausprobieren. So kam es zu einem WhatsApp-Messenger-Austausch zwischen Handan Zeylan (kursiv) und Irene Brischkowski, den die beiden transkribiert und anschließend per Mail erweitert und poliert haben. Der kontroverse Film IN BETWEEN IDENTITIES von Aleksander Radan hat soeben den Open Frame Award gewonnen. Wir gratulieren!

 

Wollen wir beginnen? Are you ready?

 Wie fangen wir an?

Ganz normal wie bei einem Gespräch. Also wir haben beide den Film IN BETWEEN IDENTITIES von Aleksander Radan gesehen, während des Open Frame Award-Abends auf dem goEast Festival.

 Richtig.

Wie fandest du ihn? Meinst du, er hat da thematisch reingepasst, in den Abend mit den Experimentalfilmen?

Mir hat er gefallen. Ja, ich glaube er passt in die Experimentalfilmgruppe bzw. in den Wettbewerb. Wie Katrin Mundt, die Kuratorin, in der Begrüßung meinte: solche Bezeichnungen und Labels wie „Videokunst“  und „Experimentalfilm“ sind ja sehr fließend. Und das haben wir ja eindeutig an dem Abend erlebt. Wie ging es dir? Wie fandest du den Film?

Also ich war ehrlich gesagt etwas enttäuscht. Und für einen Experimentalfilm-Programm, der gleichzeitig auch ein Wettbewerb war, fand ich das für ein mittelgroßes Festival wie das goEast schwach. Das kann man auf einem Kunsthochschultag zeigen.

Da stimme ich dir zu, aber es war ja auch ein Nachwuchsprogramm, das sollte man bedenken – also schon in gewisser Hinsicht ein Hochschulprogramm.  IN BETWEEN IDENTITIES aber hat herausgestochen.

Inwiefern?

Erstens war er animiert. Zweitens gab es keine Dialoge. Drittens hat er mir gefallen… Also vom Stil hat er sich stark von den anderen unterschieden. Da er nicht mit einer echten Kamera gedreht wurde, sondern hier ein Computerspiel modifiziert wurde.

Hat er nicht mit einer Hand gespielt und der anderen mit ‘ner Kamera gefilmt?

 Das weiß ich gar nicht. Ich dachte es wurde vom PC selbst aufgenommen.

Mir gefiel diese GTA-Computerspiel-Ästhetik überhaupt nicht. Also es ist ja nicht nur die Ästhetik, sondern das echte GTA-Spiel gewesen, dass ich ja eh sehr kritisch sehe. Aber das ist jetzt meine Meinung. Aber gehen wir mal auf seinen Titel bzw. das „Thema“ ein . Der Film heißt IN BETWEEN IDENTITIES.

Das finde ich aber sehr geil, um es mal plump zu sagen, dass er GTA5 genommen hat. Seinen Titel kann man wahrscheinlich auf vielfältige Weise interpretieren. Ich finde es harmoniert bestens mit dieser Computerspiel-Ästhetik. Übersetzt heißt das ja so viel wie „zwischen Identitäten“, oder?

Hast du die Message bzw. das Thema mitbekommen?

 Was der Film aussagen will?

Ja ,allgemein um was es geht. Ich brauchte da lange. Man konnte es im Nachhinein erkennen.

Ich denke es geht um Identitäten und Scheinidentitäten. Mit einem Avatar schafft man sich eine Scheinidentität oder eine Alterntive vom realen Leben.

Allein schon der Anfang. Du siehst ‘ne Wohnung oder eine Art Hotelzimmer.

Man wechselt je nachdem, wo man sich befindet zwischen den Identitäten, die man sich schafft hin und her. Stört dich was daran?

Mit ‘ner Frau, die nur im Slip da steht und auf ihr Handy schaut oder Fotos macht… Genau kann ich das nicht sagen. Und ganz wichtig sind natürlich dicke Brüste. Der Künstler, hat sich bemüht, aber das wars auch! Finde ich total plump .So: Oh ja, Identitäten und Selfies im Unterhöschen, wow.

Das kann man als fragwürdig ansehen. Warum muss sie nackt sein? Ich habe das als Verweis auf die Objekthaftigkeit gegenüber Frauen in der Welt des Glitzers alias Los Angeles, in der Welt der Stars und Sternchen, gesehen. Also als Spiegelbild für den Selfie-Wahn und also als indirekte Kritik.

Aber noch eine Selfiekritik?!? Brauchen wir das? Kann man da nichts anderes nehmen? Ist das nicht alles einfach zu plakativ? Ich finde, er hat einfach sein Konzept nicht zu Ende gedacht.

Hmm. Er schafft damit gleich eine Verbindung zum Publikum. Nackte Haut polarisiert.

Nun gut gehen wir weiter, oder? Also wenn ich mich recht erinnere, dann war die nächste Szene im Park mit den Muskelmännern, die trainieren, right? Oder willst du noch was sagen zu dem davor?

 Ah, richtig. Ganz kurz was noch zu dem davor. Ich kann verstehen, warum man sich aufregt. Man könnte aber auch argumentieren: Es ist nur ein Avatar, eine künstliche Figur. Es sind nur Brüste. Sie stehen für die Künstlichkeit der Computerspielewelt oder für die Eindimensionalität von bestimmten Frauenfiguren. Was nicht als Kritik an der Frau verstanden werden soll, sondern an dem Bild von bestimmten Frauen. Wie Frauen gesehen werden. Der Filmemacher lässt das Publikum zum Voyeur werden. Es geht zudem, um den Blick auf jemanden, der/die sich selbst betrachtet, im Spiegel oder in der Kamera. Wir beobachten jemanden, der sich selbst beobachtet. Und dies zieht sich durch den ganzen Film.

Lass uns weiterziehen also zur Szene im Park.

Oder nochmal zum Titel?

Die zweite Szene mit dem Titel verknüpfen, maybe? Da soll’s ja um männliche Identitäten gehen. Mit den Muskelmännern und dann später am Strand , wie er Frauen zuruft und nicht beachtet wird.

Und es geht auch wieder darum, wie sie angeschaut werden – vom Publikum wie von anderen (in der Spielrealität).

Ja, genau.

Es wird ein Bild von übertrieben starken männlichen Personen gezeichnet. Der andere Mann – ohne erkennbare „Übermuckis“- scheint kein Glück im Leben zu haben.

Aber auch da war mir das Beispiel wieder zu plakativ.

 Ich denke, Radan will genau diese plumpe Plakativität, diese Übertreibung, um zu kritisieren oder um die Welt „auf den Arm zu nehmen“.

Die Art und Weise wie er das Thema rüberbringen will ist einfach langweilig. Genauso wie die erste Figur beim Selfiemachen zu zeigen.

Die Künstlichkeit herausstellen. Wer bin ich bzw. wer will ich sein? Wer sind meine Vorbilder? Er macht es sich einfach, weil es funktioniert.

Du meinst, er hält uns den Spiegel vor und will uns zeigen wie plump wir sind? Ich finde es widersprüchlich. Während des Guckens dachte ich mir nie: Wow -voll innovativ, und all diese Beispiele kennt man ja gar nicht… Nein, es hat mich einfach nur gelangweilt. Hat der Mann sich eigentlich am Ende ertränkt?

Nein, nicht direkt. Ich glaube er hat die Vorstellung von bestimmten Typen, von Weiblichkeit und Männlichkeit. Ich erinnere mich nur am Anfang an einen Mann auf dem Dach, der -glaube ich- in den leeren (!) Pool in den Tod gesprungen ist. Nach der Mucki-Strand-Szene kommt noch die Frau (?) mit dem Maskengesicht.

Die Frage die mir grade kommt: Wirft er diesen Weiblichkeits-/Männlichkeits-Diskurs nicht um Jahre zurück, so à la „Mädchen müssen nicht alle pink mögen“ oder „Jungs tragen nicht nur blau und spielen mit Autos“?

Sex Sells. Und diese Hypermaskulinität und Hyperfemininität findet sich leider noch in sehr vielen Videospielen.

Ja, aber soll’s hier um die Kritik von Videospielen gehen? Sein Konzept geht bei mir einfach nicht auf. Ich hab das Gefühl, dass da jemand mit hippen coolen Mitteln so voll die „aktuellen“ Themen aufgreifen will und das Endprodukt ist einfach uninteressant.

 Er benutzt die Künstlichkeit von Videospielen. Wir leben in einer digitalen Welt, können uns virtuelle Profile und Avatare erschaffen, die nichts mit uns gemein haben. Uns damit sozusagen Wünsche erfüllen, die sonst nicht möglich wären. Er karikiert die erfolgssüchtigen oder perfektionistischen Menschen, denen es nur um Darstellung undÄußerlichkeiten geht. So was wie: Selfies, Selfies, Selfies! Muckis um stark und überlegen zu wirken.

Ist das neu ? Ist das nicht wie: „Mir ist nix anderes eingefallen also mach mal das“?!

Geht es denn immer darum etwas Neues zu erschaffen? Er war zumindest so kreativ, ein Computerspiel zu benutzen.

Nein, natürlich nicht. Aber man kann bekannte Themen nehmen und auf eine neue Art und Weise präsentieren und be- oder verarbeiten. Eines muss man ihm lassen: Auch wenn die Ästhetik mich nicht anspricht ist das schon kreativ. Aber egal auf zur letzten Szene.

 Die letzte Szene kann als Höhepunkt, als endgültige Übertreibung angesehen werden.

Ich sah in der Figur ‘ne reiche Dame, die beauty- oder jugendsüchtig ist -wegen der Maske wahrscheinlich- und nur so ’ne Kopie von einer Kopie, ein Roboter, letztlich ersetzbar.

 Eine Person mit Maske und Gurkenscheiben als Augen. Genau.

Reich übrigens weil Pelzmantel und Designerladen. Auch hier hat’s mich nicht schockiert oder meinen Blick oder sonstwas verändert, oder Impulse gegeben oder sonst irgendwas.

 Das führt die beiden vorherigen Szenen fort und treibt sie auf die Spitze. Die Figuren stellen sich zur Schau. Und dann schwebt sie plötzlich. Fandest du das nicht verrückt?

Ne. Irgendwie tatsächlich gar nicht. Es war so herrlich unerfrischend.

Er simuliert Identitäten, leitet diese durch eine fiktive Welt, die ein Bildnis einer realen Stadt darstellt, die die Scheinwelt, den Traum (Hollywood) lebt. Aber er schickt seine Figuren auf Sinnsuche. Zumindest empfand ich das so. Warum machen sie das?

Ich verstehe deinen Standpunkt. Nur hattest du nicht das Gefühl, dass es na ja ausgelutscht ist?

 Was meinst du? Was ist ausgelutscht?

 Er versucht mit den Bildern, mit den Figuren, die er geschaffen hat eine Kuh zu melken, die nicht mehr zu melken ist. All das haben wir doch schon x-mal genauso gesehen. Ich dachte wirklich irgendwann die Arbeit kennst du doch.

 Dann gib mir mal ein paar Beispiele.

Beispiele bezogen auf die letzte Szene oder allgemein? Allgemein würde ich sagen, das Thema Selfiekritik wurde schon in allen möglichen Feuilletons durchgenudelt… Männlichkeitsbilder, so wie er sie darstellt, werden uns im Mainstream-Kino dauernd vor den Kopf geknallt. Denk mal an die ganzen Vin Diesel- oder The Rock-Komödien.

 Mag sein. Hast du auch konkrete Bespiele? Meinetwegen auf die letzte Szene bezogen oder eine, die dir überhaupt nicht gefallen hat ? Stichwort: halbnackte Frau.

Die letzte Szene hatte was von DIE FRAUEN VON STEPFORD . Eigentlich erinnert mich Radans ganze Arbeit an so einen 90er-Jahre Alternative-Rock-Videoclip. Da fällt mir zum Beispiel der Clip zu „Black Hole Sun“ von Soundgarden spontan ein. Die erste Szene könnte für ein X-beliebiges Instagram-Model stehen, das es Kim Kardashian gleichtun will und sich halbnackt ablichtet. Bekannt ist ja Kardashians Instagramfoto , auf dem sie nackt ein Selfie macht und als Bildunterschrift steht da „Oh ich hab nichts zum anziehen“. Daran hat mich das total erinnert. Deswegen finde ich diese Beispiele so unspektakulär, weil es sie einfach so schon irgendwo mal gab und das langweilt meine Augen.

 Das könnte tatsächlich ein Bezug sein.

Jedoch glaube ich, dass ich mit meiner Meinung über Radans Arbeit alleine da stehe, oder nur ’ne kleine Gruppe an Personen habe, die mir zustimmt, da ja die Mehrheit der Menschen so etwas „voll originell, toll und innovativ“ findet… genauso wie du.

 Die Umsetzung des Themas finde ich originell, das stimmt. „Voll originell“ vielleicht auch. Deine Meinung über Radans Arbeit ist nicht unbedingt ungewöhnlich, erschließt sich mir leider nicht vollständig. Du öffnest dich der Kunst nicht und bleibst leider an der Oberfläche. Die Ästhetik gefällt dir nicht, der Inhalt nicht, die Figuren erst recht nicht. Gibt es irgendwas, was du ansprechend findest?

Ich würde mich der Kunst öffnen ,wenn ich sie sehen könnte. Ich kann auch nicht anders als auf der Oberfläche zu bleiben, da diese Arbeit nur Oberfläche zu bieten hat. Du schaffst es ja hervorragend den Film in eine Sphäre zu heben, in die er nicht reingehört, weil du gleich in allem voll die cool gemachte Gesellschaftskritik siehst. Ist ja aber auch vollkommen okay, wenn man sich mit Mittelmäßigkeit zufrieden gibt . Als kreativ kann ich ihm so ein bisschen die Idee mit dem Videospiel anrechnen, auch wenn ich sie nicht mag.

Im letzten Abschnitt sind wir uns einig. Aber zum Thema „cool gemachte Gesellschaftskritik“: Das bezieht sich dann auf Transferleistung und Auseinandersetzung mit dem Gesehenen. Die Arbeit hat nicht nur Oberfläche. Wenn man sich einzelne Elemente herauspickt, wie du es machst, vielleicht. Aber man muss das ganze Werk betrachteten. Der Film ist mehr als nur die Summe seiner Einzelteile.

Das Schöne ist ja, dass jeder anders an den Film reingeht und ihn anders sieht. Offensichtlich warst du aber total blind, sonst wäre dir aufgefallen, dass das Zeitverschwendung war. Das Traurige ist, dass die Mehrheit genauso wie du denkt .

Meinungsvielfalt ist absolut wichtig. Da bin ich d’accord. Meiner Meinung nach hast du jedoch nur ein Element erfasst, dich von seiner scheinbaren Oberflächlichkeit blenden lassen und den Film nicht reflektiert. Schade darum. Wir kommen auf keinen grünen Nenner.

Mit der Kritik über meine „mangelnde Reflexionsfähigkeit“ kann ich leben.. Hoffe, du kannst es auch mit der Kritik über dein leicht zu befriedigendes Filmauge… by the way. Ich habe mich mit der Laptop-Kamera beim Tippen gefilmt. Sollte ich irgendwo als Experimentalfilm einreichen… Voll innovativ und „Oh so kritisch“.. Einen Fan hätte ich vermutlich schon.

 Ganz meiner Meinung. Obwohl ich das „leicht befriedigende Filmauge“ noch etwas anders sehe. Aber nun gut. Dein Special-Experimentalfilm wäre sicher eine Sichtung Wert. Ich wäre auf jeden Fall deine härteste Kritikerin.

 

von Handan Zeylan

und Irene Brischkowski