In den letzten Jahren gab es einige größere deutsche Produktionen mit dem Anspruch, die wenig geschätzte Arbeit im Sozial- und Bildungssektor zu repräsentieren. Maria Speths „Herr Bachmann und seine Klasse“ und Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ erhielten viel Zuspruch und Beachtung, nicht nur von Kritiker*innen, sondern von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Auch wenn sich beide Filme in ihrer Form und der Annäherung an die Einzelschicksale unter Lehrenden, Erziehenden und (Un)Erzogenen unterscheiden, könnten sie in ihrer Abwendung von dem derzeit vorherrschenden deutschen Wohlfühlkino einen Aufbruch markiert haben, der zumindest eine systemkritische Betrachtung in Erwägung zieht.

In „Das Lehrerzimmer“ will Ilker Çatak gezielt einen Schritt weitergehen und versucht sich durch die Perspektive einer jungen Schullehrerin an einem mikrokosmischen Psychogramm der Gesellschaft. Ausgehend von einer gemeinsamen Beobachtung in ihrer Schulzeit, dem übergriffigen Auffordern eines Lehrers gegenüber Schüler*innen ihr Privateigentum zu übergeben, spinnen Çatak und Co-Drehbuchautor Johannes Duncker aus dem Erlebten ein sehr aktuelles Drama.

Leonie Benesch spielt die Mathematik- und Sportlehrerin Carla Nowak, die sich mit einer idealistischen Grundhaltung in ihrem ersten Unterrichtsjahr zu beweisen versucht. Als sich Diebstähle in der Schule häufen und sie sich in ihrem Misstrauen niemandem anvertraut, lässt sie ihre Laptop-Kamera im Lehrerzimmer laufen. Ausgerechnet die Sekretärin, deren Sohn von Nowak unterrichtet wird, ist auf dem aufgezeichneten Material beim Diebstahl zu sehen, oder zumindest ihr auffälliges Blusenmuster. Als Carla Nowak ihren ganzen Mut für eine Konfrontation zusammennimmt, streitet die Beschuldigte alles ab und verlässt die Schule. Was folgt, ist ein von Verleumdungen und Paranoia gezeichneter Alltag, in dem Nowak immer wieder an die Grenzen des Systems und ihrer eigenen Überzeugungen stößt.

Der ohnehin aufwühlende und auslaugende Alltag als junge Lehrerin ist von Anfang an spürbar. Benesch trägt diesen Film mit ihrem ganzen Körper und Können, kein Innehalten und erst recht kein Ausbrechen, weder aus den schulischen Verstrickungen noch aus dem Blickfeld der Kamera. Die Inszenierung mutet wie ein Kammerspiel an, die Schule werden wir nicht verlassen, und in den Engen des 4:3-Formats folgen wir in nahen und halbnahen Einstellungen jedem Zucken und Zittern. Es gelingt ihr, den Typus eines naiven Lehrerneulings in all seinen Regungen und Unsicherheiten darzustellen. Erst recht, weil Benesch mit jedem weiteren Kontroll- und Autoritätsverlust ihrer Figur uns zu einer genuinen Hingabe aufblicken lässt. Doch genauso schnell wie wir uns Carla Nowak annähern können, breitet sich nämlich im Klassen- und Lehrerzimmer ein Narrativ aus Intrigen und Machtkämpfen aus, die über den Zeitraum einer Schulwoche immer wieder durch kleine und große Tragödien vorangetrieben werden. Mit der Intervention der Autoritäten in den ersten Minuten entfaltet sich eine Abfolge von exemplarisch geführten Auseinandersetzungen, die sich immer wieder in ihrer eigenen Selbstgerechtigkeit auflösen.

So will der Film unbedingt vermeiden, sich auf gängige Stereotype zu stürzen und suhlt sich stattdessen in einer konstruierten Ambivalenz. Meist besteht sie darin, den befehlerischen Ton der Charaktere im nächsten Schnitt umzukehren und dem Publikum zu predigen: es ist kompliziert! An manchen Stellen bedeutet das dann: der Schwarze Lehrer kann Rassismen von sich geben oder türkische Eltern können ganz gut Deutsch sprechen. Im Lehrerzimmer verkommen die Lehrer zu Abbildern mickriger, opportunistischer Bürokraten, und der Solidarität unter den Siebtklässlern wird eine Cancel Culture-Initiative hinzugedichtet, angetrieben von der Schülerzeitung, die den Abgang der Sekretärin, und damit verbunden ihres Sohnes, aufklären will. Je mehr Einblicke in die Widersprüchlichkeiten des Systems präsentiert werden, desto deutlicher wird die Unfähigkeit des Regisseurs und des Drehbuchautors, aus den dialektischen Wirren heraus eine Haltung einzunehmen, die aus der Ohnmacht der Protagonistin hinausweist.