Die Pest in den Augen der Behörden, eine Nutte in den Augen ihres Ex-Mann, aber letztlich ein Opfer staatlicher Ungerechtigkeit – Chief Wang sieht drei schwierige Frauen in Li Xuelian (Fan Bingbing) vereint, der Hauptfigur von Feng Xiaogangs I AM NOT MADAME BOVARY. Für Chief Wang ist diese Kombination der unterschiedlichen Rollen in ihrer Kraft übermenschlich. Denn mehr als zehn Jahre lang versucht die junge Frau Gerechtigkeit zu erfahren und ihren Namen reinzuwaschen. Von ihrem Ex-Mann wurde sie zuerst um ein Apartment und eine gemeinsame Zukunft betrogen, und schließlich als „Pan Jinlian“, als Ehebrecherin und Mörderin, beschimpft. Lian verklagt jede bürokratische Instanz, die ihr bei ihrer Suche nach Gerechtigkeit Hilfe verweigert, und wendet sich bei jedem Scheitern an den nächsthöheren Rang, sodass sie letztendlich bis zum Nationalen Kongress in Peking vordringt.

Lians Geduld, Willensstärke und Beharrlichkeit werden schon gleich zu Beginn gezeigt, beispielsweise wenn sie sich – oft im strömenden Regen –verschiedenen Ansprechpersonen aufdrängt, ohne einen Rückzug in Erwägung zu ziehen. Die wachsende Angst der chinesischen Behörde vor ihr ist auch immer wieder ein willkommener Anlass für Komik, wie etwa in einer Szene, in der Lian am helllichten Tag in einen Van gezerrt wird: Der Vorgang wird mit bedrohlicher Musik untermalt und mit „Eine Einladung zum Tee“ betitelt. Offiziell ist der Film eine Komödie und der Humor ist fast immer treffend, wie etwa als Lian einem Bekannten im Gegenzug für seine Hilfe vorschlägt, mit ihm zu schlafen, und dieser entsetzt feststellt, dass er dafür fünf Menschen umbringen müsste. Die Stimmung kann aber auch makaber werden, wenn es um Themen wie Selbstmord – man solle sich doch bitte auf dem Grundstück des Konkurrenten umbringen – oder Vergewaltigung geht. Besonders der letzte Punkt resultiert in einer schwierigen Sequenz, über deren Witz sich streiten lässt. Lian wird an einer Stelle unvermittelt von einem Mann überwältigt; Im Laufe der Szene verschwindet Lian aus der Kadrierung, während der Täter -irritierend komisch inszeniert- immer wieder, und immer weniger bekleidet zurück in den Bildausschnitt stolpert.

Während die Protagonistin im ersten Drittel des Films noch aktiv die Handlung antreibt, reduziert sich ihre Leinwandpräsenz im weiteren Verlauf. Der narrative Schwerpunkt verlagert sich auf die Behörden, die nach Jahren immer noch ratlos zu sein scheinen, wie sie gegen Lian vorgehen können. Für den Film als einen satirischen Blick auf die chinesische Bürokratie ist die Ausarbeitung der Charaktere zwar hilfreich, doch das Erzähltempo wird langsamer und die bisher vorhandene Dynamik verschwindet. Dadurch kann es passieren, dass die Aufmerksamkeit stattdessen auf die Bildsprache fällt, in deren Komposition und Symmetrie man sich leicht verlieren kann.

Vier Bildformate bilden den Rahmen für die Geschichte: ein quadratisches, ein einzelnes Bild im 1:1,85 Verhältnis, Schlussbilder mit einer 1:2,39 Ratio und vor allem ein kreisrundes Bild. Das zuletzt genannte Format wird für den Großteil des Films eingesetzt, mit dem Effekt, dass man glaubt man würde das Geschehen durch ein Fernrohr betrachten. Einerseits schafft diese Entfremdung eine Distanz zwischen Publikum und Film, gleichzeitig sorgt sie jedoch durch den fokussierten Blick für einen unerwartet hohen Grad an Intimität. Beispielsweise gibt es einige Aufnahmen, in denen die Kamera sich langsam durch eine leicht geöffnete Tür bewegt, sodass man das Gefühl bekommt, ein unerwünschter, heimlicher Beobachter zu sein. Da die Bildfläche so viel kleiner als gewöhnlich ist, wirkt die Zusammenstellung der Einstellungen dicht und reich an Details. Durch die Einschränkung des Sichtfeldes eröffnen sich plötzlich eine ganz neue Tiefenwirkungen: Mal scheinen die Bilder flach, was vor allem bei Landschaftsaufnahmen der Fall ist, mal so dreidimensional, als könnten die Figuren jeden Moment aus der Leinwand treten. Wie vom Regisseur beabsichtigt, gleicht jede Einstellung einem Gemälde.

Das ungewohnte Kreisformat trägt auch dazu bei, dass man mehr als sonst das Gefühl bekommt, man verpasse etwas, das sich außerhalb des Bildrahmens abspielt – etwas Unmittelbares, Wesentliches, das im selben Moment jenseits des begrenzten Sichtfeldes passieren könnte. Drei Zeitpunkte in Lians Leben zeigt der Film, und im dritten Abschnitt wird schließlich eine Klarheit geschaffen, die dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit etwas beruhigt und ein neues Licht auf Li Xuelian, sowie auf ihre Geschichte in I AM NOT MADAME BOVARY wirft. Dadurch bleibt die Erzählung einer verletzten jungen Frau, die sich einem undurchsichtigen System entgegenstellt, bis zum Ende vielschichtig, fordernd und bewegend.

von Lisa Fedorova

Gesehen beim LICHTER Filmfest Frankfurt International im internationalen Wettbewerb zum Thema „Wahrheit“
Wiederholung am Sonntag, den 02. April 2017 um 14:30 Uhr im Mousonturm.