Hinter dem Milchglas mit seinen runden Musterungen — so sagt das erste Bild des italienischen Dramas „Miele“ — da ist gerade der Tod zugegen, da schließt sich ein Lebenskreis. Der Tod ist dabei nicht unsichtbar, er ist kein Ächzen und Stöhnen und Leiden, sondern er kommt in Person der etwa dreißigjährigen Irene (Jasmine Trinca). Die Sterbenden und ihre Angehörigen nennen sie stets Miele, Honig. Sie stellt noch Musik an, dann öffnet sie die verglaste Tür und verlässt das Zimmer, dem Tod abgewandt, dem Leben zugewandt.
Zunächst ist sie bloß ein Schatten, der durch einen dunklen Flur schwebt. Vom Tageslicht erhellt, mit treibender Musik in den Kopfhörern auf den Exitus nebenan wartend, wird sie zum diskreten, aber betörenden Todesengel, zur verwegenen, stoischen aber auch verletzlichen Fährfrau, die leidende Seelen ins Reich der Toten überführt.
Miele ist kein Serienkiller, sondern eine private Sterbehilfe, die Schwerstkranken für viel Geld ein illegales letztes Geleit gewährt und den finalen Giftcocktail reicht. Illegal, weil Sterbehilfe in Italien wie Deutschland verboten ist, zumeist ein Tabu, über das selten laut diskutiert wird. Die Grenzen der abendländischen Ethik reichen genau bis zu diesem Punkt, an dem es für manchen Hoffnungslosen nicht mehr weiter gehen soll. „Keiner will sterben“, sagt Miele einmal: „Sie alle wollen leben. Aber sie halten es nicht mehr aus“.
Der Verdienst von Valeria Golinos Debütspielfilm, der im letzten Sommer in der Reihe „Un Certain Regard“ der Filmfestspiele von Cannes lief und mit dem italienischen Golden Globe als bestes Erstlingswerk ausgezeichnet wurde, ist die zarte Überschreitung dieser ethischen Grenze, ohne in Sentimentalität zu verfallen. „Miele“ zeigt gleichsam die Notwendigkeit der Sterbehilfe im langsam überalternden Italien und leuchtet auf ironische Weise die Absurdität der rechtlichen Grauzone dahinter aus. Absurd, weil Miele die notwendigen, aber weitläufig vom Markt genommenen Barbiturate — Betäubungsmittel, die tödlich sein können, bei einer Obduktion aber nicht nachzuweisen sind — in Mexiko kaufen muss. Wie ein Drogenkurier fliegt sie regelmäßig in die USA, fährt per Bus über die südliche Grenze und besorgt in einer Apotheke ein Mittel, das zum Einschläfern altersschwacher oder kranker Tiere genutzt wird. Was dem Menschen verwehrt bleibt, geht für den Hund in Ordnung. Von der Verpackung blickt ein Labrador auf.
Wie gefährlich, ethisch bedenklich und letztlich aber sinnstiftend Mieles Geschäft ist, lässt sich ab dem Zeitpunkt in Jasmina Trincas makellosem Gesicht ablesen, als sie die Tür mit dem Milchglas durchschwebt. Die Kamera kann sich an ihrem minutiösen Spiel, ihren feinen, burschikosen Zügen, die oft in strengem Blick verharren, kaum satt sehen. Der ungarische Kameramann Gergely Pohárnok weiß dabei die warmen Lichtfluten Italiens sparsam und effektiv einzusetzen und spiegelt und kontrastiert die vielen Nahaufnahmen immer wieder mit großformatigen, suggestiven, einmal wunderschönen, ein andermal äußerst ambivalenten Kino-Gemälden.
Was für ein vielgestaltiges Wesen diese Miele nun ist und wie komplex das Dilemma der Sterbehilfe sich ausnimmt, zeigt dabei Mieles unbändige Lust am Leben: Sie schwimmt und lacht, vögelt und tanzt, sie rast auf dem Fahrrad und hört ständig Musik. Der zumeist treibende, zwischen Indie-Rock, Elektro-Sound und Oper wechselnde Soundtrack ist Mieles ultimativer Ausdruck für die Schönheit des Lebens. Die Unfähigkeit der Toten, weiterhin Musik zu hören, treibt ihr die Tränen in die Augen.
Als sie schließlich einen jungen, ans Bett gefesselten Mann ins Jenseits befördert, blickt Miele den Zuschauer einmal direkt an. Der Moment erschüttert ihre Überzeugungen, nachdem Grimaldi (Carlo Cecchi), der 70-jährige Zyniker ohne Krankheit aber mit Todeswunsch, die Saat des Zweifels in ihr pflanzte. „Haben Kranke mehr Rechte als andere?“, hatte Grimaldi gefragt und damit den zentralen Konflikt des Films in Gang gesetzt. Während Miele also in die Kamera blickt, schließt sich ein Kreis für sie, so rund wie die Pupillen ihrer mit Leben erfüllten Augen.