Kaum ein Thema hat die Deutschen in den letzten Jahren mehr beschäftigt als die Mordserie des Nationalsozialistische Untergrunds (NSU). Unzähligen Zeitungsartikel, Reportage, Dokumentationen und Fernseh-Schwerpunkte erzählten uns von Taten, TäterInnen und den Fehlern der Behörden. Es wurden Untersuchungsausschüsse gegründet, es wurden zivilgesellschaftliche Initiativen gegründet (NSU-Watch). Museen wie die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank zeigen ganze Ausstellungen. Die letzten zwei documentas beinhalteten Projekte zum Thema. Es wurden Theaterstücke geschrieben (z. B. Elfriede Jelineks „Rein Gold“), Sachbücher geschrieben, Songs geschrieben (Antilopen Gang: „Beate Zschäpe hört U2“). Nun folgt Regisseur Sobo Swobodnik mit einem experimentellen Dokumentarfilm: „6 Jahre, 7 Monate, 16 Tage – Die Morde des NSU“.

Wahrscheinlich jeder kennt die Namen der Täter: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Weniger bekannt sind den meisten jedoch die Namen der Ermordeten, und zwar nicht nur, weil sie eventuell schwieriger von der Zunge gehen. Der Schwerpunkt der Medienberichterstattung lag lange Zeit auf den Tätern. Nicht den Opfern. Nicht ihren Angehörigen. Das ist, was Swobodnik an den Morden interessierte. Das, und der Rassismus, strukturell und institutionell, den dieser Fall offenbarte. Mit dieser Schwerpunktsetzung ist er keineswegs der Erste. Seine Herangehensweise unterscheidet sich aber von der Vielzahl vorangegangener NSU-Dokumentationen. Der Film zeigt keine Fotografien, Interviews oder Re-enactments. Auch keine Gesichter. Nicht von Tätern, Opfern oder Angehörigen. Zu sehen sind die Orte der Verbrechen: Schwarzweiß und meist verregnet sehen wir Straßen, Häuserfassaden, Autos. Dazu hört man Zitate der Angehörigen, kombiniert mit Medien- und Polizeiberichten. Die Familien der Opfer und das ihnen angetane Unrecht stehen im Fokus.

Schnell liegen einem Formulierungen wie „den Opfern eine Stimme geben“ auf der Zunge. Nur sind es nicht die Stimmen der Angehörigen selbst, die reden. Gesprochen werden die Zitate von Theaterschauspielern, was man auch hört. Der spezielle künstliche Sprechstil schafft Distanz. Es wird nicht versucht, sich als die Opfer auszugeben. Ähnliches und mehr macht die Musik. Elias Gottsteins Soundtrack ist vielseitig: traditionell türkisch anmutende Klänge, Geigen und elektronische Musik. Mal passt sie zum Inhalt und dem Gesprochenen: Geräusche wie Regen oder Sirenen werden in den Ton eingebaut. Teils diktiert sie dem Publikum die zur Situation passenden Gefühle: Trauer, Anspannung, Angst. Doch dann bricht die Musik damit. An den unpassendsten Stellen steigern sich die elektronischen Rhythmen, wie in einem Nachtclub. Jeden Moment erwartet man den Ausruf „Hyper, Hyper“. Was hier entsteht ist fast schon ein Verfremdungseffekt. Solche Brüche ziehen sich durch den gesamten Film. Ihren Höhepunkt finden sie im Abspann. Es ertönen die Ärzte mit „Schrei nach Liebe“. Vereinzelt können Zuschauende nicht an sich halten und singen mit.

Swobodniks Film bemüht sich sehr, keine traditionelle Dokumentation zu sein. Das Ergebnis sind langsame schwarzweiß Aufnahmen von Straßen, neutral gelesene Zitate und ungewöhnliche Musik. All das wirkt gewöhnungsbedürftig, wenn nicht sogar dröge. Doch nach einer Weile entstehen auch besondere Momente: Ein Anwalt der Angehörigen sagt, die Familie sei zweimal zum Opfer geworden – einmal durch den NSU, einmal durch die Polizei –, währenddessen fährt eine Kehrmaschine über den Bürgersteig. Langsam und bedrohlich nähert sich das kleine Fahrzeug. Ein dunkles Monster vor der hellen Hauswand, das unaufhörlich alles vor ihm vernichtet. Ist es der Verfassungsschutz, der Beweise vernichtet? Das drohende Vergessen um die Verbrechen? Oder einfach die städtischen Entsorgungsbetriebe bei ihrer Arbeit? Die Bilder bieten Raum für Assoziationen.

Aber braucht es nun wirklich noch eine NSU-Doku, sei sie auch noch so anders und experimentell? Das Publikum scheint des Themas noch nicht überdrüssig. Als der Film auf dem 11. Lichter Filmfest Frankfurt gezeigt wird, ist der Vorführraum der Naxoshalle ist voll. An Informationen bietet der Film aber nichts Neues. Nichtsdestotrotz, auch heute, mehr als sechs Jahre nach Bekanntwerden ihrer Existenz, sind viele wichtige Fragen zum NSU und ihrer Taten offen. Filme wie Sobo Swobodniks „6 Jahre, 7 Monate, 16 Tage – Die Morde der NSU“ bestärken das Verlangen, die Suche nach Antworten auf diese Fragen auch weiterhin fortzusetzen.

von Charlotte Ludwig-Dinkel