Heleen Gerritsen leitet 2019 bereits zum zweiten Mal das goEast-Festival in Wiesbaden. Die gebürtige Niederländerin hat Slawistik und VWL studiert und schon früh ihr Interesse an osteuropäischer und russischer Kultur entdeckt, wie sie uns im Gespräch erzählt. Nach zahlreichen Auslandsaufenthalten und Festivaljobs während der Studienzeit kam Gerritsen über ein Praktikum bei einem Filmstudio in Sankt Petersburg endgültig zum Film. In Berlin machte sie ein Aufbaustudium in Produktion und arbeitete u.a. als Herstellungsleiterin, Regieassistentin und vor allem Produzentin bei zahlreichen Filmproduktionen mit, bevor Sie als Nachfolgerin von Gaby Babić 2018 die Festivalleitung des goEast übernahm.

Am Vormittag der Eröffnung hat sich die Gerritsen Zeit genommen, um den 15 Teilnehmer*innen des Workshop der Kritik Rede und Antwort zu stehen. Als Teil einer Übung erfuhren die Studierenden erst eine halbe Stunde vorher von ihrem Besuch, organisierten sich in Kleingruppen und formulierten Fragen. Das Transkript erfolgte danach aus 15 Einzeltexten, die in der Gruppe gekürzt, redigiert und hitzig diskutiert wurden.

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Workshop der Kritik: Frau Gerritsen, in ein paar Stunden beginnt das 19. goEast – Festival. Gibt es noch viel zu tun oder sind Sie entspannt?

Heleen Gerritsen: Viel Zeit zum hektischen Hin- und Herrennen bleibt eh nicht mehr. Man hat alles geplant und vorbereitet, und dann verspätet sich doch eine Lieferung, oder ein Gast ist am Flughafen nicht aufgetaucht. Im letzten Moment sind es immer solche Sachen. Gestern Abend beispielsweise wurde eine 35mm-Filmkopie aus dem Moskauer Archiv angeliefert, die vom Deutschen Filminstitut getestet wurde. Es stellte sich heraus: Das Filmmaterial ist geschrumpft, also in ganz schlechtem Zustand und es besteht Reißgefahr. Als Alternative haben wir nur eine schreckliche DVD mit unleserlichen Untertiteln. Wir haben in Moskau angerufen, und da hieß es: Ach, die Kopie ist doch in Ordnung, während die Prüfer vom Deutschen Filminstitut meinten, das sei alles ganz, ganz schlimm. Wir werden die Kopie vorführen und – fingers crossed– hoffen, dass alles gut geht.

All sowas läuft dann zu Ihnen als Leitung?

Ich habe mit Veronika Sellner ja auch noch eine Organisationsleitung, die mich unterstützt, aber alles was mit Filmkopien und Gästen zu tun hat, und  alles wo eventuell Extrakosten entstehen läuft über meinen Tisch.

Wie viele Mitarbeiter*innen haben Sie insgesamt?

Über das ganze Jahr verteilt sind nur ich und eine Organisationsleitung festangestellt. Zusätzlich haben wir Honorarkräfte, freiberufliche Mitarbeiter*innen, Praktikant*innen, und während des Festivals noch zahlreiche Volunteers. Letztlich kommen wir auf über 100 Leute.

Die 19. Ausgabe des Festivals eröffnet heute mit der mazedonischen Ko-Produktion „God Exists, Her Name is Petrunya“. Was können Sie über den Film sagen und warum sie ihn ausgewählt?

Der Film ist eine schwarze Komödie. Die Hauptfigur ist sehr charmant, aufmüpfig und benimmt sich so, wie sich junge Frauen im Film eigentlich nicht benehmen sollten. Petrunya ist eine typische Loser-Figur, arbeitslos, weiß nicht wohin mit sich und entscheidet sich aus einer Übersprungshandlung heraus einen ganz anderen Weg einzuschlagen. So gerät sie in Konflikt mit der restlichen Gesellschaft, mit ihren Eltern und mit Autoritätsfiguren. Das ist eine Rolle, die es im Film immer häufiger gibt, aber in der man typischerweise junge Männer sieht. Ich fand es schön, dass die Figur hier umgedreht wird. Ich habe „God Exists, Her Name is Petrunya“ bei der Berlinale gesehen und dabei auch gemerkt, dass das deutsche Publikum sich schlapp gelacht hat.

Der Eröffnungsfilm handelt also von einer ungewöhnlichen Heldin. Mit Blick auf das diesjährige Programm fällt auf, dass einige Filme feministische und queere Themen verhandeln. Gibt es diesbezüglich im osteuropäischen Film zur Zeit besondere Tendenzen?

Mein erster Impuls wäre zu sagen „Nein, die gibt es nicht“, doch es ist immer die Frage, welche Filme es aus einem Land überhaupt herausschaffen, und welche Filme es danach in die Programme internationaler Festivals schaffen. Ich finde auch nicht, dass wir in diesem Jahr auffallend viele queere oder feministische Filme im Programm hätten. Aber wir suchen natürlich immer wieder nach neuen, spannenden Perspektiven, die uns das oft unterrepräsentierte, feministische und queere Kino liefert. Wenn es um wichtige Themen geht, kann ich nur sagen: Wenn man denkt, ich möchte mit meinem Festival die Welt verbessern, geht das natürlich nicht mit schlechten Filmen. Das Allerschlimmste, das man für ein bestimmtes Thema tun kann, ist, einen schlechten Film dazu zu zeigen.

Wie wird die Filmauswahl getroffen?

Die Programmabteilung und ich erstellen zusammen die Vorauswahl der Wettbewerbsfilme. Dann gibt es eine Short List, auf der etwa 70 Filme stehen, und die Auswahlkommission entscheidet letztlich gemeinsam. Das ist eine demokratische Entscheidung. Ich habe zwar ein Vetorecht, aber darauf verzichte ich am liebsten, denn man möchte ja, dass die Auswahlkommission im nächsten Jahr wieder dabei ist (lacht).

Beim Blick in das Programmheft fällt auf, wie umfangreich das Rahmenprogramm ist. Mit Talks, Symposien und die zahlreichen Specials scheint der Fokus stark auf Kulturvermittlung liegen. Stehen die Filme in diesem Jahr überhaupt noch im Mittelpunkt?

Wir zeigen bis Dienstag abend insgesamt 109 Filme – das steht also natürlich im Mittelpunkt! Das Rahmenprogramm ist aber tatsächlich sehr wichtig in diesem Jahr, vor allem wegen eine neuen, von Kulturfonds Frankfurt Rhein-Main geförderten Projektes. Dabei geht es uns explizit darum regionale Kulturvereine mit einem Osteuropa-Fokus mehr ins Festival einzubeziehen. Viele dieser Vereine sprechen uns auch direkt an und fragen nach einer möglichen Kooperation. Deshalb dachten wir, dass wir das einfach mal ausprobieren, um interdisziplinär zu arbeiten und auch mal in andere Richtungen zu gucken. Letztlich geht es darum die osteuropäische Kultur in den Mittelpunkt zu stellen. Das schließt sich für mich aber mit unserem Filmfestival nicht aus. Und die Partys waren immer schon wichtig! (lacht)

Sie zeigen neben langen und kurzen Spiel- und Dokumentarfilmen auch ein Programm mit Musikvideos. Was hast es damit auf sich?

Momentan gibt es einen erkennbaren Trend hin zu Musikvideos, die im Internet verbreitet werden. Die sind zwar nicht perfekt produziert, aber inhaltlich doch sehr interessant. Inspiriert wurde ich zusätzlich durch einen Artikel in der russischen Nowaja Gaseta, in der es hieß: die wichtigste Kunstform ist immer die, die am meisten zensiert wird.
Das ist zum Beispiel in Russland momentan eindeutig die Musik. Dort gibt es Rapper, deren Konzerte von der Polizei massiv gestört werden und die schikaniert und verhaftet werden. Meiner Meinung nach sind solche Musikvideos auf jeden Fall eine neue Gegenbewegung, die ein großes Publikum anspricht, weshalb ich es sehr interessant finde, diesen eine Präsentationsmöglichkeit in unserem Rahmenprogramm zu geben.

Welchen Raum nehmen politische Filme auf dem goEast-Festival ein, gerade auch in Bezug auf die anstehende Europawahl?

Im Wettbewerb laufen ein paar Filme, die bewusst politisch sind. Allerdings kann man als Filmemacher ja nicht immer sofort auf die Tagesgeschäfte im Land eingehen. Ich finde es aber auch gut, wenn man durch solche Filme auch einen zielgerichteten Blick bekommt. Im Programm haben wir da zum Beispiel den Film „Hungary 2018“, in dem  es um die Parlamentswahlen in Ungarn geht – ein politischer Dokumentarfilm im klassichen Sinne. Politik spielt in anderen Filmen immer auch im Hintergrund eine Rolle, und wir gehen diesen Themen nicht aus dem Weg. Ich finde es zum Beispiel super, dass beim goEast Russen und Ukrainer miteinander diskutieren können, denn genau dafür sind wir eine Plattform und ein Festival der Begegnungen. Ich wähle jedoch keine Filme aus, nur weil sie politisch sind und bestimmte Themen bedienen. Wir haben in diesem Jahr zudem den Themenschwerpunkt „Bleibt alles anders – die wilden 90er“, wo wir filmisch auf die Nachwendezeit zurückschauen. Hier haben wir uns bewusst gegen politische Dokumentarfilme entschieden, die sich mit der Zeit auseinandersetzen, und uns für künstlerische Spielfilme entschieden, in denen diese Zeit reflektiert wird – es ist wirklich alles dabei, von István Szabó bis Jean-Luc Godard.

Wie viele Filme haben Sie für das 19. goEast Festival insgesamt gesichtet?

Wir haben rund 2000 Filme gesichtet, weil die Regionen, auf die wir uns konzertieren, recht groß sind. Da waren natürlich auch Kurzfilme dabei. Wenn man für ein Filmfestival arbeitet, sieht man relativ schnell, ob der Film passt oder nicht. Wir wollen hier aber wirklich unabhängig Filmkunst zeigen.

Was ist in diesem Jahr Ihr persönliches Highlight?

Ich freue mich total auf die Gäste, die wir dieses Jahr haben. Ich glaube, die Zusammensetzung ist sehr schön. Zudem freue ich mich auch auf das Panel „Survival kit for filmmakers. Da haben wir ein paar interessante Produzent*innen, die über ihre Erfahrungen sprechen werden. Das ist ein Thema, das mir auch am Herzen liegt. Wir werden darüber sprechen, wie man tatsächliche Risiken einschätzt als Dokumentarfilmemacher, gerade auch im Menschenrechtsbereich. Es geht auch um die Risiken, die auftauchen, wenn man an Orten dreht, an denen man sich nicht gut auskennt, wo die Sicherheitslage nicht klar ist. Es gibt Freunde und Bekannte von mir, die als Dokumentarfilmemacher ohne Geld an Orte gehen, an denen sie sich nicht auskennen und wo sie sich in gefährliche Situationen begeben. Der russische Journalist Alexander Rastorgujew 2018 ist in der Zentralafrikanischen Republik unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Ihm widmen wir dieses Panel.

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Das Interview führten:

Alice Nagel
Barbara Asante
Beau Massie
Christoph André Piening
Daniel Ugurel
Domenico Colucci
Franziska Pohl
Janina Pickel
Lara Ann Hanuscheck
Lea Hirschmann
Lena Pressler
Paula Jungklaus
Sophie Kaupp
Verena Scheuerle
Bilquis Castaño Manias
und Toby Ashraf