Hilflosigkeit, Abhängigkeit und die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers. Das sind Motive, die einem in den Sinn kommen, wenn man mit einer schicksalsverändernden Krankheit konfrontiert wird. Das sind auch Motive des Films MOON, 66 QUESTIONS, der genau ein solches Schicksal behandelt. Doch genauso erzählt er die lebensnahe Geschichte einer eingefrorenen Vater-Tochter-Beziehung. Richtig nah waren sich die beiden nie und trotzdem fühlt sich Artemis verpflichtet nach Athen zurückzukehren, als ihr Vater Paris an Multipler Sklerose erkrankt und Hilfe braucht.

Für den Rest der Familie scheint ihr Einspringen ebenso selbstverständlich, denn alle nahen Verwandten scheinen zu wissen, was das Beste für Paris ist, doch keiner stellt in Frage, dass es Artemis allein ist, die ihm im Alltag zur Seite steht, obwohl sie selbst als junge Frau mitten im Leben steht. Die getrenntlebende Mutter distanziert sich vollkommen von ihrem Ex-Mann und lässt so vor allem ihre Tochter im Stich.

So sind Artemis und Paris auf sich allein gestellt, und erzwingen eine befremdliche Art der Intimität, die keiner der Beiden wirklich genießen kann. Paris scheint sich an sein Schicksal der Abhängigkeit zu gewöhnen, während Artemis in ihrer neuen Tätigkeit als Pflegerin zunehmend vereinsamt. In seinem eigenen Zuhause bietet sie ihm Unterstützung bei den alltäglichsten Dingen und bei Ausflügen in die öffentliche Welt Athens.

Die Krankheit des Vaters ist der einzige Handlungsstrang und allgegenwärtig, aber überschattet nicht die komplexe emotionale Lage, in der sich Artemis befindet. Über Krankheitsverläufe gibt es kaum Details, weshalb die Krankheit nicht ausgemerzt oder komplett überspitzt dargestellt wird. Stattdessen ist sie ein tagtägliches Auf und Ab, ein repetitiver Kampf, der jeden Tag mit neuen Mitteln geführt werden muss.

Der Film zeigt in unaufdringlicher Gelassenheit eine Annäherung zwischen Vater und Tochter, und pendelt von beklemmend voyeuristischen Darstellungen von Paris‘ Behinderung zu Momenten vorsichtiger Zuneigung und Hoffnung zwischen den beiden. Geduldig lange Szenen, die viel Raum für freies Spiel lassen, wechseln sich ab mit alten Heimvideos – datiert zwischen 1996 und 1999 – die zeigen was mal war und eine Nostalgie für die Vergangenheit versprühen. Diese Vergangenheit gilt es aufzuarbeiten, denn nur so können Artemis und Paris die Gegenwart des Anderen aushalten und sich auf ihr gemeinsames Schicksal einlassen.

Rückzug in eine Privatsphäre führt bei Artemis teils zu verdienter Ruhe, teils zu emotionalen Ausbrüchen, die die dünne Linie zum Wahnsinn zeigen, auf der sie sich befindet. In ihrer Isolation verarbeitet sie ihre Gefühle und lässt raus, wie überfordert sie mit der Situation ist. Durch diese expressiven Momente wird deutlich, warum die Beziehung zwischen Vater und Tochter eine wacklige Basis hat. Obwohl sie schon im gemeinsamen Spiel mit Paris überzeugt, beeindruckt die Hauptdarstellerin Sofia Kokkali besonders wenn sie alleine vor der Kamera steht mit fesselnden Erzählungen aus dem Off, verzweifelten Tanzeinlagen, und wütenden Dialogen, die sie mit sich selbst führt. Gleichzeitig meistert sie auch die ausdauernde Stille, die diesen Film auszeichnet und kommuniziert hier mit ausdrucksstarken Blicken. Sie verleiht so auch ihrer Rolle schauspielerisches Talent und seltsamen Witz, der ihr die Annäherung zum Vater erleichtert.

MOON, 66 QUESTIONS schafft es eine unangenehme Stille authentisch zu zeigen, ohne dabei sein Publikum abzuschrecken. Verstörend vertraut wirkt der fehlende Dialog innerhalb der Familie, umso erzwungener jede einzige Berührung zwischen Vater und Tochter. Artemis will ihren Vater zum Sprechen bekommen, doch dieser hält sich mit Worten zurück. Die wachsende Zuneigung und Bemühung der Tochter, macht es ihm jedoch zunehmend schwer seine behüteten Gefühle für sich zu behalten und gegen Ende des Films versucht er sichtlich aus seinem Gefängnis des Schweigens auszubrechen. Der Schauspieler Lazaros Georgakopoulos zeigt dieses Dilemma mit so viel Feingefühl, dass man den Kloß im Hals förmlich selbst spüren kann.

Ein zufälliger Fund wirft schließlich Licht darauf, warum Paris im Schweigen so geübt ist, und lässt Artemis alles überdenken. Kennt sie ihren Vater überhaupt? Oder wird es Zeit, das endlich nachzuholen? Der Film endet mit einem Schimmer der Hoffnung, ohne zu viel über die Zukunft der beiden vorwegzunehmen und hinterlässt das Publikum mit einem Gefühl der befremdlichen Vertrautheit. Etwas, was fast jeder der Familie hat, zu kennen scheint.

Reviewed by: Alexandra Georg