Mehr als vier Millionen Menschen haben den nepalesischen Straßenjungen Sonu im vielfach preisgekrönten Dokumentarfilm „Kleine Wölfe“ kennengelernt. Und weil Kindheit erst der Anfang des Lebens ist, stellte sich fast von allein die Frage, was aus dem Jungen und seinen Freunden aus dem „Rudel“ einmal werden würde. Regisseur Justin Peach erhielt im Laufe der Jahre so viele Fragen nach dem Verbleib der Jungen, dass er ein Crowdfunding für den Dreh der Fortsetzung ins Leben rief. Und hier ist „Street Line – Kleine Wölfe II“: die Antwort auf die Frage, wie zehn Jahre später das Leben der Protagonist*innen am Rande der von uns wahrgenommenen Welt aussieht.

Die gute Nachricht zuerst: Sonu lebt. Und das ist nach der von Justin Peach und Lisa Engelbach dokumentierten Kindheit auf den Straßen Kathmandus nicht selbstverständlich. Der ehemals Klebstoff schnüffelnde, kiffende und bettelnde kleine Junge ist mittlerweile ein erwachsener Mann mit einer ausgewachsenen Drogenabhängigkeit – und einer kleinen Tochter. Der Dokumentarfilm folgt Sonu durch den Entzug und bei dem Versuch, für seine Tochter Sona ein besseres Leben aufzubauen und aus dem Kreislauf der Drogensucht und der Straße zu entkommen. Er zeigt auch Sonus Schwestern und ihren Alltag mit Kindern und Touristen, denen sie Ketten verkaufen wollen, um sich und die Kinder über Wasser zu halten. Und wir sehen Sonus Bruder immer tiefer in die Drogensucht abgleiten.

Fast möchte man sich sensationsheischend in Beschreibungen des dargestellten Elends ergehen, von Dreck, Gewalt, Spritzen in diversen Körperteilen, Depressionen und all dem Elend berichten, das der Film zeigt. Doch das würde verkennen, was diesen Film so besonders macht: er stellt all das nicht aus, will nicht schockieren, sondern bleibt mit den Personen auf Augenhöhe. Es geht nicht um Mitleid, es geht um Nähe, nah dran sein am Leben der Protagonist*innen – an seinen schlechten und guten Seiten. Denn neben all diesem Leiden zeigt die Dokumentation auch die Freude im Leben der Protagonist*innen: die kleine Sona tanzend mit ihrer Freundin, Sonus Liebe zu seiner Tochter, die Dankbarkeit von Sonus Schwestern für Antidepressiva. Die absolute Nähe zu den Protagonist*innen macht diesen Film zu dem Erlebnis, das er ist. Es wird nicht weggesehen, wenn es zu Sache geht.
Dabei stehen die Bilder gleichsam unkommentiert und roh auf der Leinwand. Niemand ordnet ein, was wir zu sehen bekommen, es ist an uns, die Bilder zu verstehen und für uns zu bewerten. Dabei sind die beiden Filmschaffenden gleichzeitig sehr präsent, sie stellen Fragen an die Protagonist*innen, werden von ihnen angesehen und angesprochen, greifen aber sonst nicht ein. Und genau dort wird es schmerzhaft. Um uns ungeschönt das Leben dieser Menschen in Nepals Hauptstadt zu zeigen, lassen sie für die Zeit ihrer Anwesenheit dem Elend seinen Lauf.

Manchmal möchte man rufen: Helft ihnen doch, wenn ihr schon da seid! Doch das Helfen überlassen Justin Peach und Lisa Engelbach der Öffentlichkeit, die den Film hat entstehen lassen und der sie den Film präsentieren. Sie verstehen sich als Vermittler*innen, die aufmerksam machen auf das Leiden am anderen Ende der Welt, und haben zu dem Film eine Hilfsorganisation ins Leben gerufen, mit der sie den Menschen in Kathmandu helfen wollen. Um den Kreislauf aus Drogen, Gewalt, Kriminalität und Leben auf der Straße zu durchbrechen, wollen sie der nächsten Generation, Sona und ihren Cousinen, eine Schulbildung finanzieren. Doch der bittere Beigeschmack bleibt: sei es, aufgrund des niederschmetternden Endes der Dokumentation oder aufgrund der Tatsache, dass eines der gezeigten kleinen Mädchen bereits verstorben ist.

Reviewed by: Anika Schilling