"Das Lehrerzimmer" von Ilker Çatak

Manchmal ist es gut, wenn die eigenen Erfahrungen von außen bestätigt werden, um zu spüren, dass man sich die eigenen Erinnerungen nicht nur eingebildet hat. Für mich war „Das Lehrerzimmer“ von Ilker Çatak so eine Bestätigung. Schule ist für mich ein Leben lang ein belasteter Ort geblieben, eine Erkenntnis, die ich erst hatte, als ich selbst Lehrer werden wollte. Wenn ich gefragt werde, warum ich mich letztlich dagegen entschieden habe, antworte ich: Es war nicht der Unterricht, es war die Zeit im Lehrerzimmer.

Die Schule in Ilker Çataks Film ist ein Mikrokosmos. Ein Kosmos, den die Kamera die gesamte Laufzeit des Films über nicht verlässt. Inmitten dieses Ökosystems findet sich eine junge Lehrerin wieder. Carla Nowak leitet ihre Klasse nach neusten pädagogischen Erkenntnissen. Diese hört auf sie, ihr Ansatz funktioniert genau wie geplant. Die Unterrichtsidylle bekommt aber sehr bald Risse: In der Schule gibt es immer wieder Diebstähle, ein Schüler namens Ali wird verdächtigt und geradezu aus dem Klassenzimmer gezerrt. Bald kommt auch im Lehrerzimmer etwas abhanden. Beim Versuch, Licht ins Dunkel zu bringen, trifft Frau Nowak eine folgenschwere Entscheidung.

Müsste man ein Wort herausgreifen, das mehr als alle anderen für die Stimmung von „Das Lehrerzimmer“ steht, dann ist es: Druck.

Druck der Kolleg*innen auf die junge Lehrerin, Druck von oben, Druck durch die Eltern. Druck durch eine rebellierende Klasse. Es ist eine Geschichte über eine Frau, die auf ihre Schüler*innen zugehen möchte, sie verstehen will. Versucht, ihnen zu helfen. Doch ihr Beruf verlangt von ihr Autorität und Durchsetzungsfähigkeit. Sobald diese Autorität im Verlauf des Films schwindet, schwindet auch ihre Daseinsberechtigung im System Schule. Doch trotz ihres Scheiterns wird ihr nicht einmal erlaubt zu gehen: „Lehrermangel“.  Die Schule wird als Gefängnis, als Labyrinth inszeniert, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Die Handlung gibt Frau Nowak sprichwörtlich keine Sekunde zum Atmen. Sie telefoniert, wird angesprochen, muss Hausaufgaben kontrollieren und dem Kollegen zum Geburtstag gratulieren. Und ganz nebenbei soll eine ganze Schulklasse unterrichtet werden. Moderne Lernmethoden sollen Abhilfe schaffen, sollen Ordnung in das Beziehungschaos zwischen Lehrkörper und Schülerschaft bringen. Doch Methoden haben keine Macht, wenn das grundlegende Gefüge marode erscheint.

Ein Pluspunkt für den Film ist seine pointierte Beobachtung. Kindern wird immer wieder gesagt, dass es ihnen freisteht, zu kooperieren oder nicht. Gleichzeitig erzeugt die Präsenz der Lehrer*innen so einen Druck, dass ihnen wenig Wahl bleibt. Aufmerksam beobachtet ist auch die Art, mit der im Lehrerzimmer über die Schüler*innen gesprochen wird. Çatak präsentiert uns die emotionale Gewalt und auch den Rassismus, der in der unschuldig anmutenden Sorge um gewisse Problemkinder stecken kann. Diese Beobachtungen können im Verlauf des Films auch eine komische Note entwickeln, die jedoch von Momenten des Wiedererkennens eigener Erlebnisse herrührt.

Diesen beiden Zwecken, der Darstellung von Druck und Oppression sowie der pointierten, intimen Beobachtung, entsprechen die filmischen Mittel von „Das Lehrerzimmer“. Hier fällt sofort das Bildverhältnis von 4:3 auf, das einerseits die Enge, die Gefangenschaft im System zu verstärken weiß, sich im gleichen Moment aber auch besonders gut für die Portraitaufnahmen und Close-ups eignet, in denen die Kamera gerne schwelgt. Auch mit der Musik von Marvin Miller wird immer wieder Spannung erzeugt. Die gezupften Saiten des Streichquartetts verleihen dem wachsenden Druck, der auf Frau Nowak lastet, das nötige Fünkchen aufkeimenden Wahnsinns. Gleichzeitig zeugt die klassische Geigenmusik von der gewünschten, aber letztlich verfehlten Perfektion.

Leonie Benesch als Carla Nowak schafft es glaubwürdig, die Rolle der engagierten Lehrerin zu verkörpern, der es weder von ihren Kolleg*innen noch von den Schüler*innen, der Direktion oder den Eltern leichtgemacht wird, diese Liebe in Lehrerfolge umzusetzen. Eine Lehrerin, der man die tiefe, existenzielle Müdigkeit trotz allen Kampfgeistes ansieht. Ihr subtiles Schauspiel allein ist Grund, sich „Das Lehrerzimmer“ anzusehen. Auf Seiten der Kinderschauspieler*innen ist das Bild uneindeutiger. Hier wirkt der Dialog manchmal hölzern. Am besten funktioniert die Schulklasse, wenn sie einfach eine Schulklasse sein kann und weniger an konkrete Drehbuchzeilen gebunden ist. Die Klasse wird so zu einem eigenen Charakter mit unterschiedlichen Facetten, rebellisch, heterogen und in einem Spannungsfeld aus Trotz und tatsächlich erlebtem Unrecht.

Gegen Ende des Films sehen wir ein leeres Schulhaus. Leere Gänge, leere Klassenzimmer. Es sind die Menschen, die den Raum zu einem Labyrinth, einem Ort des Drucks machen. „Das Lehrerzimmer“ lässt damit die Frage zu, wie man diesen Raum auch anders, weniger oppressiv füllen könnte.