Junge ohne Eigenschaften

Aufwachsen in der Provinz: Christian Schäfer erzählt in „Trübe Wolken“ von einem Schüler, der seinen Ort sucht

Diesiges Licht, grauer Himmel, einsame Wälder, eine schattig-graue Kleinstadt – das Setting von Trübe Wolken ist titelgebend. Der Protagonist in dieser tristen Kulisse ist der 17-jährige Paul Nebe, der mit seinem Bruder Silas und seinen Eltern spießbürgerlich aufwächst.
Paul (Jonas Holdenrieder) hat es nicht leicht, denn er erfüllt die klassischen Merkmale eines Einzelgängers und Außenseiters; er ist still und scheu, meidet längere Gespräche und verliert sich gern allein in der Natur. Für seine extrovertierteren Mitmenschen wie die theaterspielende Dala (Valerie Stoll) oder seinen Mitschüler Max (Max Schimmelpfennig) wird er dadurch interessant und attraktiv und zum Spiegel ihrer eigenen Wünsche. Paul ist derweil ziellos und sucht noch nach seinem Platz.

Den Auftakt des Films bildet der Unfall des Lehrers Herr Bulwert, der auf einer Autofahrt durch einen anonymen Steinewerfer verunglückt. Bulwert, packend gespielt von Devid Striesow, unterrichtet Pauls Klasse von diesem Moment an aus dem Rollstuhl. Weitergehend sorgt die Leiche eines lang vermissten Mitschülers in einem Waldstück unweit des Sportvereins für Ermittlungsarbeiten am Gymnasium von Paul und Silas.
Stehen die Taten im Zusammenhang? Wie eine schwarze Wolke hängen die Radionachrichten des Unfalls und des Funds über dem perfekt gedeckten Abendbrottisch der Familie Nebe und stören die provinzielle Durchschnittlichkeit.

Was sich zunächst wie die bekannte Struktur eines Coming-of-Age-Films liest, entpuppt sich als Genregeflecht aus Elementen des Dramas, Thrillers und Mysteryfilms, in welchem sich eine grundsätzlich unheilvolle Atmosphäre bündelt. In einem Interview beschreibt Christian Schäfer die Ästhetik seines Regiedebüts in Entsprechung zum undurchschaubaren Auftreten des Hauptcharakters, da Paul ebenfalls „alles und nichts“ verkörpern solle. Als Regieanweisungen habe Jonas Holdenrieder von Schäfer außerdem immer wieder die Stichworte „weiße Wand“ und „leeres Gefäß“ bekommen, die er in seiner reduzierten, aber unberechenbar wirkenden Performance gekonnt umsetzt.
Trotz der so kreierten konstanten Spannung zieht Trübe Wolken in vielen Momenten eher ereignisarm vorbei. Umso stärker wirkt er durch die Situationen und die indirekten Begegnungen der Figuren, die um die Aufklärung der mysteriösen Ereignisse kreisen. Dabei gelingt es ihnen fast nie, offen horizontal zu kommunizieren; vielmehr taxieren sie sich gegenseitig, die spannungsvolle Stille, die oft in Pauls Anwesenheit entsteht, muss ausgehalten werden.

Herausragend an Trübe Wolken ist seine durchweg passgenaue Besetzung. Von Pauls Performance bis zur Nebenrolle des Sportlehrers (Moritz Führmann), der Paul auf dem Flur ein wenig zweideutig auf das Vereinsfest einlädt und in einer folgenden Einstellung in einer intensiven Dehnung seiner Leisten kompromittierend in Szene gesetzt wird, zeigt sich Schäfers Blick fürs Detail und seine intensive Zusammenarbeit mit den Schauspieler:innen. Sein Film wird so zum Projekt der konsequenten Ausarbeitung von Charakterprofilen und gibt in seiner Entwicklung Einblicke in die Sehnsüchte und verkappten Schattenseiten seiner ‚normalen‘ Figuren.

Spätestens in einer der letzten Szenen, in welcher Pauls Zimmer erstmalig zu sehen ist und hell und lichtdurchflutet erstrahlt, schlägt Trübe Wolken den Bogen zurück zum Coming-of-Age-Narrativ: In der Phase des Heranwachsens wirkt die elterliche Normalität erdrückend, verkehrt sich jede Provinzstadt schnell zum Albtraum und schürt der Schulalltag Aggressionen, bevor sich schließlich eine innere Stärke und Selbstgewissheit Bahn brechen wird.

Reviewed by: Lies Weimer