Unentschieden und nie zufrieden, selbst das Erwachsenwerden prokrastinieren, sich selbst im Weg stehen und nicht genau wissen, wer man eigentlich ist oder sein möchte. Weil ich nichts auf die Reihe bekomme, nie etwas zu Ende bringe und mich permanent frage „Soll das wirklich das Leben sein, von dem alle immer reden? Es muss doch noch etwas Besseres kommen, das kann es nicht sein“, daran erkenne ich, dass ich noch erwachsen werden muss. Sich selbst nicht ganz verstehen oder mit seinen eigenen Handlungen nicht zurechtzukommen, zweifeln, zögern, scheitern, das alles gehört zum Erwachsenwerden. Denke ich zumindest, noch fühle ich mich nicht erwachsen, oder zumindest nicht so erwachsen wie Leute mit Bausparvertrag, Zukunftsplänen oder Kinderwunsch.
Die von Renate Reinsve beeindruckend gespielte Julie aus Joachim Triers The Worst Person in the World sucht im Laufe des Filmes auch noch nach sich selbst und nach diesem ungreifbaren Gefühl des Erwachsenseins. Studium und Karriere wechselt sie so häufig wie ihren Haarschnitt, jedes Mal mit Elan und Zuversicht, doch nichts scheint ihren Lebenshunger komplett sättigen zu können. Julie weiß nicht wirklich, was sie vom Leben erwartet, doch eins weiß sie: Sie will mehr. Mehr Liebe, mehr Intensität, mehr Zeit.
Vor allem von ihren Beziehungen erwartet Julie mehr oder wünscht sich oft den anfänglichen Magnetismus einer jungen Liebe zurück. Insbesondere ihr Liebesleben lebt Julie intensiv, für die Liebe lässt Julie alles stehen und liegen oder hält die Zeit an, um vom Liebhaber ein paar Küsse zu stehlen. Ihr gelingt es, den älteren Aksel – hauptberuflich ein etablierter Comiczeichner, nebenberuflich ein Amateur-Philosoph – in ihren Bann zu ziehen, später meint er auch, sie sei seine eine große Liebe gewesen. Doch Julie ist wie von einem unsichtbaren Motor getrieben, es zieht sie schon bald weiter und sie findet den entspannteren Eivind, den sie ebenso verzaubern kann. Es ist klar, dass sie für beide Männer eine tiefe Zuneigung und Zärtlichkeit empfindet, nur vielleicht nicht für die Ewigkeit. Sie zweifelt oft an sich selbst und an den Beziehungen, ob es schlechtes Timing ist, ob es an Selbstsabotage, Langeweile oder Lebenshunger scheitert, das weiß der Zuschauer letztendlich genauso wenig wie Julie.
Jedoch scheint Julie sonst alles zu gelingen. Sie ist mühelos schön, unglaublich intelligent, sie platzt vor Talent, angetrieben von der Angst, etwas verpassen zu können. Sie ist auf exklusiven Partys, in eleganten Designerhäusern im Urlaub, scheint vor allem keine finanziellen Sorgen zu haben. Manchmal grenzt dies alles fast schon an Illusion und Utopie, wir sehen hier jedoch Julies Sicht auf ihr eigenes Leben, eine verklärte und voreingenommene Vision, in der Alltäglichkeiten nicht zum Programm gehören. Doch auch in dieser Traumwelt muss sich Julie manchmal den traurigen Wahrheiten des Lebens stellen, ihre eigenen Traumata und Erfahrungen konfrontieren und wachsen.
Renate Reinsve legt als Julie eine Wahnsinnsperformance ab, die auch mit Recht unter anderem in Cannes gekürt wurde. Ihr ist es gelungen, dass man von Julies Makeln absieht, ihr jegliche Doppelmoral oder Hypokrisie schnell verzeiht und nicht anders kann, als sich in sie zu verlieben. Mit viel Charme, Witz und Gefühl zieht uns der (beste) schlimmste Mensch der Welt in seinen Bann.
Ob Julie nun erwachsener ist? Wer weiß das schon.
– Laura May Woods