In Ihren Käfigen zwitschern die Vögel. Männer höheren Alters sitzen mit geschlossenen Augen an den Tischen. Mit Stift und Papier versuchen sie herauszufinden, welches Zwitschern von welchem Vogel stammt. Nach einer Nacht voller Ekstase setzt sich Hazal dazu. Melodien füllen den Raum und sie schließt die Augen.

Mit dem 2017 erschienenen Roman ELLBOGEN erregte Fatma Aydemir die Aufmerksamkeit der deutschen Literaturszene. Und mit dem gleichnamigen Film sorgt Aslı Özarslan nun in der deutschen Filmszene für Aufsehen. ELLBOGEN feierte seine Premiere auf der Berlinale und läuft seitdem auf mehreren deutschen Filmfestivals.

Die 17-jährige Hazal, gespielt von Melia Kara in ihrer ersten Filmrolle, kämpft gegen die Bilder, welche Menschen auf sie projizieren. „You have to decide who you are and force the world to deal with you, not with its idea of you.“ Mit diesem Zitat beginnt ELLBOGEN und es dient förmlich als Motto für Hazals Leben. Die Arbeit in der Bäckerei ihrer Mutter möchte sie niederlegen. Sie sucht eine echte Ausbildung, ihren eigenen Weg. Doch diese Tür soll sich im wahrsten Sinne nicht für sie öffnen, egal, wie sehr sie sich anstrengt. Neben ihren wenig zufriedenstellenden schulischen Leistungen sorgen auch ihre türkischen Wurzeln bei Hazal für Unsicherheit. Dies inszeniert Özarslan sehr subtil, indem man beispielsweise nur einen kurzen Blick darauf erhascht, dass Hazal in ihrem Lebenslauf unter Muttersprache lieber „Deutsch und Türkisch“ als nur „Türkisch“ angibt. Kleine Hinweise, mit denen sich viele bilinguale Menschen identifizieren können.

Auch von ihrer Mutter bekommt Hazal eine Absage. Während Hazal sich nach Zuneigung sehnt, kritisiert sie, was aus ihrer Tochter geworden ist: Sie hat ein anderes Bild von Hazal im Kopf. Und auch ihre progressive und liebenswerte Tante versagt in diesem Punkt. Sie überträgt ihre Wünsche unreflektiert auf Hazal, die ihrer Ansicht nach das Abitur nachholen und studieren sollte. Hazal ignoriert all das kommentarlos. Sie selbst kann sie nur bei ihren Freundinnen sein, die ebenfalls die Ablehnung der Gesellschaft auf sich ziehen. An Hazals 18. Geburtstag werden sie in ihren Kleidern und High Heels an der Tür eines Berliner Technoclubs abgewiesen. Sie kommen aus Wedding und fallen in den Berliner Hipstervierteln auf. Bei Hazal entlädt sich der angestaute Frust explosionsartig, als ein Student in der U-Bahn die Mädchen sexuell belästigt. Es kommt zu einem Unfall, der Hazal zur Flucht in die Türkei zwingt.

Der Ton von ELLBOGEN verändert sich danach drastisch. In der Türkei wird der Film ruhiger. Hazal wirkt erschöpft und nachdenklich, sie redet weniger und versucht sich ihrer neuen Lebenssituation anzupassen. Während sich ELLBOGEN anfänglich Zeit nahm, Hazals Lage plastisch wiederzugeben, brennt der Film gegen Ende schnell aus. Hazals Zustand in der Türkei wirkt schwer begreiflich und orientierungslos. In Istanbul landet sie etwa bei Mehmet, einer Online-Bekanntschaft, die sie nötigt.

Die Kameraarbeit ist durch den Film hinweg auf Hazals Mimik und Gestik fokussiert, ihr Innenleben wird auch ohne Worte auf die Leinwand übertragen. Leider kommen andere Charaktere in ELLBOGEN zu kurz und fühlen sich dadurch flach an. In der Türkei muss sich Hazal weiterhin mit Projektionen auf sie herumschlagen. Ab dem Moment, wo sie ihren Mund öffnet, ist sie aus Sicht der Türken eine „Almancı“, eine Deutschtürkin, was mit einigen Stigmata einhergeht. So unterstellt ihr der aktivistische, kurdische Mitbewohner Halil Naivität bezüglich der Türkei. Halils poshe Freundin assoziiert Berlin wiederum nur mit gentrifizierten Hipster-Cafés und versucht auch Hazal in dieses Bild zu quetschen. Sie bezeichnet ihr Almancı-Türkisch als kindlich-süß und sieht nicht, dass sie Hazal damit beleidigt. Sie verstehen das Leben der Türken in Deutschland nicht, und somit auch Hazal nicht.

Wie ein Vogel im Käfig wurde Hazal in ihrem Handeln eingeschränkt. Die Erwartungen, Bilder und Ideen, die die Menschen von ihr hatten, dominierten ihr Leben. Mit ihrer explosiven Entladung, der anschließenden Flucht in die Türkei, und der letztlichen Absage, zurückzukehren, erkämpft sich Hazal ihren eigenen, unabhängigen Weg. Nach ihrem Ausbruch rennt Hazal und bleibt nicht mehr stehen.