Pinsel erweitern die Bedeutung von realen Bildern auf Leinwänden. Filme stellen eine Erweiterung eines Standbildes in der Fotografie dar. Und Animation verbreitet ein Gemälde durch das Spiel von Wiederholung und Zeit. Die Suche nach dem besten Erzählmedium von Geschichten ist nie abgeschlossen, und Jonas Poher Rasmussens „Flee“ zeigt einmal mehr die Wirkung, die durch handgefertigte Bilder erreicht werden kann. Animation baute schon immer ihren eigenen Raum inmitten des Films-Gebäudes und entwickelt ihre filmische Sprache täglich. Eine gängige Methode beispielsweise, um die gezeichneten Figuren von ihrem Hintergrund zu unterscheiden, besteht darin, einen dunklen Umriss auf ihre Formen zu zeichnen (eine Art von „Depth of Field“). Die Schatten und die Dunkelheit, die durch diese Umrisse entstehen, stellen lebendige Figuren und Trennungen vor die Hintergründe. Die Umrisse von Amin, unserem Protagonisten, sind von Anfang an unzerbrochen. Eröffnungshintergrund: ein gemusterter Teppich. Auf ihm liegend und ruhend, etabliert Amin auf therapeutische Weise einen Dialog. Ein Dialog zwischen dem Filmemacher und den Zuschauer:innen, um seine wahre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte früherer Hintergründe, vor denen er geflohen ist und die ihn noch bis heute schweigend verfolgen: Als Kind floh Amin aus Afghanistan, nachdem die „Mudschaheddin“ während des Ersten Afghanischen Bürgerkriegs in den 1980er und 1990er Jahren überwältigt worden waren. Die entsetzlichen Opfer, die Amins Mutter und seine Geschwister auf sich nehmen mussten, um zu überleben, fungieren als die wesentlichsten Handlungselemente von „Flee“. Vom ersten Mal, als Amin sich zu Männern hingezogen fühlte, über die Soldaten, die Amins Bruder verfolgten, über die Kälte der russischen Polizei und der russischen Landschaften, bis hin zu seinen Schwestern, die nach Schweden als Ladung geschmuggelt wurden, während er der einzige Bruder war, der aus Russland fliehen konnte – aus all dem entsteht eine Collage aus Erinnerungen und Tränen, die Amins animiertes Gesicht umspielen. Der Film erweckt das verschwommene Trauma, die herzzerreißende Familiengeschichte und Amins Sexualität durch schlichte, aber nachvollziehbare Animationen zum Leben. Mit Hilfe von dokumentierten Bildern und archiviertem Filmmaterial, die ebenfalls im Film gezeigt werden, kann der Zuschauer den historischen Kontext von Amins Erzählung nachvollziehen, wodurch die Animation für einen Moment weniger realitätsfern wirkt. Das Format des animierten Dokumentarfilms lässt viel Raum für die Frage zu, was in den Bildern als real und was als bloße Täuschung dargestellt wird. Dennoch ist es schwer, nicht an etwas zu glauben, das so düster die menschliche Finsternis porträtiert. Ich behaupte, dass es mehrere Momente in dem Film gibt, die dem Animationsfilm seine dokumentarische Gültigkeit verleihen. Den ersten von ihnen findet man gleich zu Beginn des Films: Der animierte Amin bringt zum Ausdruck, dass er einen Moment braucht, bevor er mit seiner Geschichte fortfährt. Die Szene wechselt und der immer noch animierte Amin sitzt auf dem Musterteppich und spricht über die Schwierigkeit, eine persönliche Geschichte zu erzählen, während ein animierter Interviewer, der eine Version von Rasmussen ist, Amin zuhört. Dieser Moment bringt uns näher an eine dokumentarische und gegenwärtige Realität. Ein animierter Meta-Moment, der eher auf unsere Realität als auf Amins traumatisierte und fantastische Vergangenheit anspielt. Diese dokumentarische Realität und Amins Vergangenheit wechseln sich im Film ständig ab, wie ein Ping-Pong-Spiel, das uns in Atem hält und uns nicht aus dem Kino entkommen lässt.

Ernesto Mayz Barreto