Ein Junge im hohen Gras – verdreckt, bewegungslos, hungrig. Eine Nahaufnahme seines Gesichtes: leere Augen schweifen unkontrolliert und desorientiert umher. Ein paar Meter weiter versucht sein Bruder auf einem Baum winzige Vogeleier aus einem Nest zu fischen. Er fällt, die Eier in seiner Tasche zerbrechen. Beide Kinder lecken den übriggebliebenen Dotter vom Leder ab – sie brauchen einen neuen Plan, um an etwas Essbares zu kommen.

Wolfskinder – der Name kommt nicht von ungefähr. Um sich zu verteidigen und nicht zu verhungern, prügeln sie auf beißende Hunde ein, essen Frösche und reißen Hühner. Grausam und gefährlich: das Leben der deutschen Flüchtlingswaisen nach dem zweiten Weltkrieg. Viele Kinder im damaligen Ostpreußen haben ihre Familien verloren, sind heimatlos und dem drohenden Hungertod sowie den sowjetischen Besatzungstruppen ausgeliefert. Sie befinden sich auf der Flucht in Richtung Baltikum in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Zahl der Wolfskinder wird heute auf rund 5000 geschätzt.

Regisseur Rick Ostermann beschreibt in seinem Spielfilmdebüt, der 2013 auf dem Filmfestival in Venedig Premiere feierte, die Entwicklung des 14-jährigen Hans während seiner Flucht nach Litauen. Schon bald von seinem kleinen Bruder Fritz getrennt, schlägt er sich mit wechselnden Begleitern durch idyllische Landschaften. Dabei durchlebt er eine Entwicklung vom introvertierten, großen Bruder zum Beschützer der Kleineren und Schwächeren.

Die „Natur als zweite Hauptfigur im Film“, so Ostermann, kommt in stimmungsgewaltigen Bildern daher, während die fiktionale Geschichte des ersten Protagonisten Hans Uwe Arendt ein wenig zu konstruiert und symbolisch wirkt.

Zwischen Verfolgung und Kindheit flüchten die Mädchen und Jungen durch dichtes Unterholz und tanzen im Regen mit ausgestreckten Zungen, um etwas Wasser in ihren trockenen Kehlen zu spüren. Blütenpollen, die wie kalter Schnee von den Bäumen rieseln, und die Landschaft in ein eisiges Weiß tauchen, stehen der seltenen Leichtigkeit gegenüber, die lachende und spielende Kinder im Wasser zeigt.

Die stillen Bilder überzeugen, die Dialoge weniger. Vielleicht sei es der kindlichen Ausdrucksweise geschuldet, vielleicht liegt es daran, dass Ostermann, wie er selbst bei der Rhein-Main-Premiere beim Lichter Filmfest 2014 im Anschlussgespräch zugibt, kein guter Dialogschreiber sei – die Gespräche wirken eher hölzern, als emotional. Erst in den nonverbalen Momenten, in denen die Kinder fliehen, Angst haben, resignieren, wird ihre Verzweiflung wirklich deutlich.

Die leisen Szenen werden von einer stimmungsmetaphorischen Musik begleitet, die sich mit den einfachen Geräuschen der Natur abwechselt. Die Narration zeigt das Leiden der Flüchtlinge, schreitet aber an manchen Stellen zu schnell voran, anstatt sich in der Erzählung ein wenig mehr Zeit zu lassen. Die Vielzahl an Kindern, die Hans auf seinem Weg trifft, beschreibt dagegen allerdings sehr genau die damalige Situation: Sie treffen sich, verbringen eine Weile Zeit zusammen, trennen sich wieder – und das Schicksal der jeweiligen Begleiter bleibt oftmals ungewiss.

Mit den letzten Worten des Protagonisten, „Hans Uwe Arendt“, wird deutlich, mit welchem Problem die Kinder zwischen Flucht und Überleben konfrontiert waren: die eigene Identität nicht zu vergessen. Fritz scheint daran gescheitert – um zu überleben, wurde er jemand anderer. Was aus Hans wird, bleibt mit dem letzten Bild offen. Wie auch die vielen realen Geschichten der kleinen Kriegskinder zum größten Teil unbekannt sind. Der Film hat kein Happy End, weil es kaum Happy Ends in dem Leben der verlassenen und auf sich allein gestellten Flüchtlinge gab.

Wolfskinder zeigt naturgewaltige Bilder mit zähen Dialogen in einer bisweilen zu konstruierten Geschichte. Trotz Schwächen schafft Ostermann einen Film, der nicht zuletzt durch die eindrucksvolle Leistung der Jungschauspieler Levin Liam und Patrick Lorenczat bewegt und absolut sehenswert ist.