Am 01. April 2016 geben sich zwölf Kurzfilmregisseur*innen aus der Region beim Lichter Filmfest Frankfurt International die Ehre und präsentieren – als Teil der KURZFILMROLLE I – ihre Werke. Sie leisten damit einen wichtigen kreativen Beitrag zum ohnehin schon mit vielen Höhepunkten gespickten Festivalprogramm. Insgesamt zwölf Kurzfilme dürfen ich und die zahlreichen Gäste im großen Saal des Frankfurter Mousonturms, unter Anwesenheit der Filmschaffenden nun erleben. Vier echte Perlen werden mir anschließend in Erinnerung bleiben und ihren Weg in meinen kleinen Erfahrungsbericht finden. Es ist 22:12 Uhr, ich sitze in der 6. Reihe von vorne, das Licht im Saal wird weniger und die Vorstellung beginnt…

Gleich der zweite Film des Programms zeigt sich minimalistisch und dennoch äußerst bildgewaltig. DER GEKERBTE RAUM AUS STEIN GEGEN EIN IDEAL AUS GLAS ist das Werk der erst 20-jährigen Brenda Lien von der hfg-Offenbach. Frisch aus dem Schnittraum lief der Kurzfilm damals schon beim hessischen Hochschulfilmtag 2015. Während des Filmgesprächs im Anschluss wird sie berichten, dass es ganze anderthalb Jahre gedauert hat, ihr Werk zu vollenden. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass der Film mittels der sogenannten Rotoskopie entstand. Ein Verfahren, bei dem bereits gedrehtes Filmmaterial Bild für Bild zunächst abgezeichnet und anschließend koloriert wird, und das bei etwa 9000 Bildern – bemerkenswert! Die Visualisierung des Gedichtes „Sturmflutkommando“ von Poetry-Slammerin Josefine Berkholz fasziniert mit ganz individuellem Stil, eindringlichem Sounddesign und eingängiger, wenn auch sprachlich verwobener Botschaft: Arsch hoch! Es gibt genug, das verändert werden muss. Aus dem Publikum: Faszination und Applaus.

Im zweiten Teil des Abends steht der Mensch und sein Tier im Mittelpunkt. Da ist zunächst mit KILLER INSTINCT der 2014 erschienene Teil einer ganzen Kurzfilmreihe von Gunter Deller (aus dieser Reihe wird zu späterem Zeitpunkt ein weiterer Film laufen). Unter der Einwirkung verstörender Musik sehe ich einige Hundebesitzer mit ihren vierbeinigen Freunden im Park spielen. Ich bin Voyeur. Keiner der Herrchen und Frauchen nimmt mich wahr. „Nur die Hunde“, so Deller anschließend im Gespräch, „haben mich und meine Kamera ab und zu bemerkt“. Ich sehe Normales, das dann doch skurril wirkt. Eine kleine Promenadenmischung zieht eine mollige Dame aus dem Bild, um danach von selbiger ungelenk wieder hereingezogen zu werden. Ich schaue weiter. Der rote Ball eines sportlichen Herrchens fliegt durch den Bildausschnitt und wird anschließend von einer schwarzen französischen Bulldogge artig apportiert. Mir dämmert langsam etwas. Die Auflösung folgt bei Fuß: es handelt sich um eine moderne, satirische Interpretation des Bildes „Winterlandschaft mit einem Jäger“ von Jan Wildens aus dem Jahre 1624. Mit freundlichem Auftrag der Staatlichen Kunstsammlung Dresdens. Ehrliches Lachen und wohlwollender Applaus bei mir und im Saal.

Der nächste Film über die Beziehung zwischen Mensch und Tier beginnt idyllisch. Indonesien ist Schauplatz, freundliche fremde Gesichter schauen mich an, ein Huhn gackert vergnügt auf der Straße. Erst als der Titel des Films (A PLACE TO FIGHT) erscheint, und der Saal merkt, dass es sich um einen Dokumentarfilm über Hahnenkämpfe handelt, spüre ich eine aufkommende Spannung bezüglich der folgenden, sicher drastischen Bilder. Regisseur Matthias Lawetzky, der mit diesem Film ebenfalls den hessischen Hochschulfilmtag 2015 bereicherte, wird im Anschluss davon sprechen, dass er bei seiner Reise rein zufällig auf das Thema gestoßen ist. Ich und das Publikum werden in unseren Erwartungen nicht „enttäuscht“. Es folgen die befürchteten abstoßenden Bilder der sich mit Klingen bekämpfenden Hähne. Ein erstes Raunen geht durch den Raum. Als ein Tier mit verletzter Schlagader blutig auf dem Sandboden liegt und sich schmerzerfüllt windet, verlässt eine Frau mit auf den Mund gelegter Hand den Saal. Der Film ist zu Ende. Ich bin beeindruckt von der Offenheit, mit der man an eine für mich so abartige Tradition herangehen kann. Ich stehe in Konflikt mit mir, möchte laut lospoltern, dass es sich hier nur um Bilder einer ekelhaften Tierquälerei handelt und um sonst nichts. Dann merke ich, dass mir der Regisseur mit seiner spontanen Entscheidung für diesen Film so viele Schritte voraus ist, dass der Film kontrovers, fesselnd und mutig ist. Ich und der Saal applaudieren selbstreflektiert.

Danach schneit es auf der Leinwand. Die vierte Perle des Programms ist THE OLD MAN AND THE BIRD. Regisseur und Autor Dennis Stein-Schomburg erzählt jetzt das Märchen eines alten Mannes, der einsam in einer sturmumwehten Waldhütte lebt, bis ein kleines Rotkehlchen gegen seine Scheibe fliegt und im Schnee liegen bleibt. Ein Animationsfilm mit unglaublich viel Liebe zum Detail. „Zum Glück hat dieser Mann ein Herz“ denke ich, weiß aber, dass er um den Vogel aufzupeppeln seine sichere Hütte verlassen muss. Eine Parabel daraus zu lesen fällt mir und dem Rest sicher nicht schwer. Der von der Kunsthochschule Kassel geförderte Kurzfilm seziert meine Gedanken zu Empathie und Solidarität um mich dann daran zu erinnern, dass dies zwangsweise auch heißt, Dinge zu opfern. In den letzten sieben Minuten ist mir warm ums Herz geworden – trotz eiskaltem Ende. Es folgt ein warmer, empathischer Applaus.

Nach knapp 150 Minuten und weit nach Mitternacht verlasse ich den Saal. Mir geht es gut. Ich mache mir Gedanken über mich und meine Umwelt. Anschließend falle ich in mein Bett. Etwa acht Stunden später werde ich diesen Bericht schreiben. Dabei werden mir vier Kurzfilme wieder einfallen. Einen großartigen Abend hatte ich aber mit allen zwölf. Ende.

Martin Henkelmann