Wir schreiben das Jahr 2044: Künstliche Intelligenz hat in allen menschlichen Lebensbereichen und Alltagssituationen die Herrschaft übernommen. So auch bei der Auswahl und Verteilung der Arbeit – mit welcher Gabrielle (Léa Seydoux) nicht zufrieden ist. Doch um einen anspruchsvolleren Job zu erlangen, muss sie sich von den Emotionen und Traumata ihrer vergangenen Leben loslösen, indem sie ihre DNA-Stränge maschinell säubern lässt. Zu hoch ist das Risiko, dass diese den KI-gesteuerten Entscheidungen im Weg stehen. Damit taucht der Zuschauer in eine Reise durch Gabrielles vorangegangene Lebensrealitäten in den Jahren 1910, 2014 und ins gegenwärtige 2044 ein.
Unterschiedlicher könnten ihre Umstände in all diesen Epochen nicht sein – so ist sie beispielsweise 1910 mit einem reichen Besitzer einer Puppenfabrik in Paris verheiratet, während sie sich 2014 als eher wenig erfolgreiche Schauspielerin in Los Angeles versucht. Eine ständige Konstante zieht sich jedoch durch: die Anwesenheit des mysteriösen Louis (George MacKay), zu dem sie sich in jeder Zeitperiode sofort hingezogen fühlt. Mal tritt er als charmanter Gentleman auf, mal als 30-jähriger frustrierter Mann, der allen attraktiven Frauen, die ihn abgewiesen haben, Rache schwört. Seine zuletzt genannte Persönlichkeit und Erscheinung ist an Elliot Rodger angelehnt, der im Jahr 2014 aus Frust über seine Einsamkeit und die erfahrene Zurückweisung von Frauen als 22-Jähriger sechs Menschen und später sich selbst bei einem Amoklauf an einer Universität tötete.
Auf Grundlage der Kurzgeschichte „The Beast in the Jungle“ von Henry James (welche im gleichen Jahr mit dem Titel „Das Tier im Dschungel“ von Patric Chiha verfilmt wurde), kommen bei Bonello eine Vielzahl an Themen zur Sprache. Einsamkeit, Liebe, Angst, Menschsein – zu diesen sowie weiteren zentralen Motiven und Emotionen unseres Lebens stellt der Regisseur kritische Fragen. Außerdem wird die Zukunft, insbesondere in Anbetracht auf die Themen Künstliche Intelligenz und Internetkultur, hinterfragt.
Leichte Kost ist „The Beast” wahrhaftig nicht. Der Film erfordert vom Zuschauer vor allem anfangs mit teils verwirrenden Dialogen in der 1910er-Epoche einiges an Geduld und Aufmerksamkeit. Doch wer bereit ist, ihm genau das zu schenken, wird am Ende mit einem schauspielerischen, narrativen und technischen Meisterwerk belohnt. Léa Seydoux‘ Gesicht ist praktisch wie für die Kamera geschaffen. Bonello fängt in erstaunlichen Nahaufnahmen immer wieder ihre Emotionen oder genauer: deren Abwesenheit ein. Gemeinsam mit George MacKay, der extra für diese Rolle Französisch gelernt hat, besteht eine unbestreitbare Chemie zwischen den beiden Darstellern, die in einem grandiosen und nervenkitzelnden Finale des Paares endet, welches man zu Beginn des Films überhaupt nicht erwartet hatte.
Generell ist der Film vor allem unberechenbar und einzigartig in der Art, wie er gemacht worden ist. Man wird durch die Zeitsprünge zwischen den einzelnen Epochen und den Leben der Protagonisten sowie durch den Schnitt und die Kameraführung in unzählige Richtungen gelockt, die den Handlungsablauf unvorhersehbar machen und den Zuschauer beim ersten Schauen zugegebenermaßen herausfordern werden. Informationen über zentrale Themen und Motive des Films werden vereinzelt, und nur wenn man sie nicht erwartet, eingestreut. Einige Szenen werden wiederholt, das Bild wird verpixelt und läuft in sich zusammen, einmal wird sogar die Leinwand gevierteilt – mangelnde Kreativität kann man Bonello und seinem Team keineswegs unterstellen.
Dadurch gelingt ein Film, der mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spielt und diese mitunter auch vermischt. Die abgebildeten Themen regen zum Nachdenken über unsere Ängste, den Umgang mit Emotionen und den seelischen Antrieb durch Verliebtsein an. Gepaart mit der beiläufigen cleveren Kritik an der Nutzung von KI und an toxischer Maskulinität durch den Antagonisten des Films entspricht dieser dem jetzigen Zeitgeist und lädt zu wichtigen Konversationen und Debatten ein. Übrigens: Einen klassischen Abspann am Ende des Films gab es nicht, stattdessen soll man einen QR-Code scannen, mit dem man sich auf Wunsch die Credits ansehen kann. Das hat mich am Ende der Vorstellung allerdings fast noch am wenigsten überrascht.