Bereits zum siebten Mal in Folge wurde Finnland 2024 zum Land mit der glücklichsten Bevölkerung ernannt. Dem ikonischen finnischen Filmregisseur Aki Kaurismäki ist diese Studie wohl komplett fremd geblieben. Ebenfalls in seinem letzten Film, dem 2023 erschienenen, Golden-Globes-nominierten „Fallende Blätter”, zeichnet Kaurismäki ein ganz anderes Bild von dem skandinavischen Land: trist, grau und deprimierend. Nicht anders stellt er die Atmosphäre im letzten Band seiner berühmten Proletarischen Trilogie dar. Die Rede ist von „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik”. Nach „Schatten im Paradies” (1986) und „Ariel” (1988) ist dieses Werk aus 1990 das dritte, in welchem Kaurismäki das Leben tragischer Figuren der Arbeiterklasse verfilmt.
Im Mittelpunkt steht Iris. Sie arbeitet in einer Streichholzfabrik und lebt noch bei ihrer Mutter und deren neuem Lebenspartner, der sich wie ein Ersatzvater für Iris aufspielt. Im negativen Sinne. Ihren Alltag bewältigt die junge Frau meist schweigend. Wenn sie kocht, sagt sie nichts, wenn sie isst, sagt sie nichts, auch bei der Hausarbeit geht sie still vor. Eines Abends geht sie in eine Diskothek, wo alle anderen Frauen von Männern zum Tanzen aufgefordert werden – nur sie nicht. Von ihrem nächsten Gehalt kauft sie sich daraufhin ein Kleid, welches ihr im Schaufenster gefallen hat. Da sie deswegen nicht genug Geld mit nach Hause bringt, wird ihre Mutter wütend und ihr Stiefvater gewalttätig und beleidigend. Im neuen Kleid verlässt sie das Haus und geht erneut in das Tanzlokal, wo sie auf den älteren Aarne trifft. Die beiden verbringen eine Nacht gemeinsam. Verzweifelt auf der Suche nach Liebe und Zuneigung, setzt Iris Hoffnungen in Aarne. Der aber verlässt sie sofort und meldet sich danach nicht mehr. Auch als Iris ihm später mitteilt, dass sie schwanger von ihm ist, reagiert er schroff und zwingt Iris dazu, das Kind abzutreiben. Geld dafür bekommt sie von ihm auch. Absichtlich läuft Iris auf eine Straße, wo sie von einem Auto angefahren wird, und das Kind verliert. Als sie auch noch von den Eltern hinausgeworfen wird, fasst sie einen folgenreichen Entschluss…
Wie ein roter Faden zieht sich durch den Film vor allem eine Auffälligkeit: Der Mangel an Dialog und gesprochenem Wort. Kaurismäki will dadurch das Bild eines trostlosen und einsamen Finnlands zeichnen, was ihm in Kombination mit dem schlichten Bühnenbild und dem konstant ausdruckslosen Gesichtsausdruck von Iris, gespielt von Kai Outinen, auch bravourös gelingt. Eine Wolke von Kontaktlosigkeit und Einöde umgibt sie. In der Kneipe trinkt sie ihr Bier immer allein, in der Diskothek sitzt sie am Ende als einzige ohne Tanzpartner da. Weil sie auch zuhause keine Liebe, Wertschätzung und Aufmerksamkeit bekommt, klammert sie sich aussichtslos an Aarne.
Im Film ist er Symbolfigur für die verachtende Männerwelt, die Frauen nur als Objekt der Begierde sieht. Selten wurde das Abbild eines stereotypisch sexistischen Mannes so gut getroffen wie in diesem Film. Ihm fehlt es komplett an Vielschichtigkeit, an Emotionen, an Charakterzügen. Was man bei anderen Filmen erzähltechnisch kritisieren könnte, passt in diesem Film auf der einen Seite gut zum Spielort des Films, eine Kleinstadt in Finnland, sowie auch zu der Art an Männern, die Kaurismäki damit kritisiert. Sie sind emotional unerreichbar, reden nicht über ihre Gefühle und denken, dass diese Kälte, die sie ausstrahlen, ihre Männlichkeit unterstreicht. Und so kommt es kaum überraschend, dass am Ende des Films – trotz Iris’ Fehlern – eine gewisse Sympathie mit ihrer Figur nicht abstreitbar ist.
Der Film lässt mitfühlen, er regt zum Nachdenken an. Wir alle waren vielleicht schonmal Iris, wo wir unüberlegte Beziehungen eingehen wollten, von denen wir wussten, dass sie uns seelisch nicht guttun würden. Durch diese Nachvollziehbarkeit und unser Einfühlungsvermögen stellt sich am Ende des Films berechtigterweise die Frage: Gibt es eine Moral, mit der man über Iris urteilen kann? Oder verdient sie nicht viel mehr unser Verständnis, weil sie doch nur nach Liebe sucht?