Wenn es gut läuft, bringt ein Hummer es auf mehr als hundert Jahre Lebenszeit. Bis zuletzt verliert er nicht seine Fruchtbarkeit, kann immer noch auf partnerschaftliches Glück hoffen. Bei der Balz hat er daher keinen Grund, sich verrückt zu machen; er nimmt gelassen die Rückschläge hin, berappelt sich, sucht weiter nach der richtigen Partnerin. Ein Hummer müsste man sein.

Tiere und unsere schicksalhaften Verbindungen zu ihnen haben Yorgos Lanthimos schon in seinen früheren Filmen beschäftigt, vor allem in DOGTOOTH, der 2009 in Cannes Premiere hatte. Mit THE LOBSTER führt uns der griechische Filmemacher nun in seinen bisher größten Zoo. Kamele, Flamingos und andere Kreaturen haben hier Freilauf – die Alter Egos derjenigen, die am menschlichen Paarungsverhalten gescheitert sind. David (Colin Farrell) wäre das erste Schalentier in ihrer Gesellschaft. Laut Vertrag mit dem Verkupplungshotel, in dem er zu Beginn der Handlung einzieht, muss der etwas speckige Brite sich in ein Tier seiner Wahl verwandeln lassen, sollte er unter den übrigen Hotelgästen nicht binnen 45 Tagen eine Partnerin finden. Den Hummer hat er neben der Langlebigkeit vermutlich auch des knackigen Panzers wegen ausgewählt.

Wäre es nicht ohnehin schon kurios, wie wir Menschen versuchen, einen Partner zu finden, dieser Film macht ein geradezu absurdes Unterfangen daraus. Im ersten englischsprachigen Werk aus der Feder von Lanthimos und seinem Ko-Autor Efthymis Filippo lernen Männer und Frauen sich unter der Prämisse kennen, dass nur solche Personen, die bestimmte Eigenschaften oder Eigenheiten teilen, ein Paar sein können. Romantisches Werben wird in stiller Übereinkunft aufgefasst als Suche nach jemandem, der über dasselbe Feature verfügt wie man selbst. Eine Parameterrechnung, wie Partnerschaftsbörsen sie anstellen: Kombiniere Gleiches mit Gleichem, und du darfst auf ein Leben zu zweit hoffen.

Wie andere Hotelgäste, die hinken (Ben Whishaw) oder lispeln (John C. Reilly), sucht David dieser Logik gemäß nach seinem passenden Gegenstück. Um die richtige Frau zu finden, nimmt er strenges Reglement durch die Hotelleitung in Kauf und begibt sich jeden Tag auf eine absurde Jagd im nahegelegenen Wald. Hier schießen er und die anderen Alleinstehenden mit Betäubungspfeilen auf Personen, die aus der Anstalt geflohen sind und im Unterholz eine Gegenbewegung organisieren. Zwei Welten, die sich in ihren ideologischen Lebenseinstellungen buchstäblich bekriegen: Die einen wollen Zweisamkeit, die anderen radikale Abstinenz. Beide Extreme werden in Lanthimos’ Film satirisch überspitzt. THE LOBSTER führt vor, wie kollektiver Pragmatismus in gleich zwei Varianten an den wahren Bedürfnissen von Individuen versagt.

Aus Colin Farrells Spiel spricht tiefer Weltschmerz, während David dieser Wahrheit auf die Spur kommt. Sein Schmerz ist kein romantisches Motiv, sondern Verzweiflung über die Unfähigkeit, ein ihm entsprechendes Leben zu führen. Er und der von Joaquin Phoenix ganz ähnlich angelegte Theodore in Spike Jonzes Film HER könnten unglückliche Brüder sein. Beide sind angewiesen auf Beistand, um in ihrem Junggesellendasein nicht zu verkümmern, beide finden nur nicht-adäquate Formen davon. David muss sich regelmäßig Balsam in seinen Rücken reiben, und wenn er hilflos um seinen stämmigen Torso herumlangt, um es auf die richtigen Stellen aufzutragen, wünscht man ihm eine Gefährtin, die ihm bei allem, was nur zu zweit funktioniert, behilflich wäre.

Dass Personen aus ihrer Leiblichkeit heraus agieren und interagieren, ist einer von Lanthimos’ zentralen Topoi. Seine Figuren kennen nur Verhaltensweisen, mit denen sie andere rabiat behandeln. Ihre sexuellen Interaktionen sind gewaltvoll und desinteressiert wie im Tierreich. Der eine bietet dem anderen das Hinterteil dar, bewegt es rhythmisch und ist dabei eher auf rituellen Vollzug denn Gemeinschaft aus. Als zeitgenössischer Europäer kann man dieses Bild politisch auffassen, zumal aus einer griechischen Perspekte, doch Lanthimos’ Verweise verweigern sich jeder Eindeutigkeit. Irgendjemand wird hier nachgeahmt, aber ob Diplomaten in Brüssel oder durch nur verzweifelte Einzelgänger gemeint sind, bleibt in der Schwebe.

Allein Inhalt und Form dieses Tableaus entsprechen einander eindeutig. Auf beiden Ebenen des Films wird die Inszenierung selbst zur Schau gestellt. Hier das performative Verhalten in Gruppen, ohne dass sich Nähe einstellt, das sich Fügen unter Autoritäten; dort Lanthimos’ genau arrangierte Einstellungen, der sterile Stil, der das wirklich Menschliche verneint und es höchstens kurz streift, wenn Blut spritzt oder ein Sinfonieorchester auf der Tonspur lautstark vermeldet, dass man Gefühle haben müsste. Lanthimos möchte uns schockieren, bis in die letzte schmerzhafte Szene seines Films hinein, und führt uns gleichzeitig vor, wie wir uns das Mitfühlen mit seinen Figuren lediglich einbilden.

Wie können wir uns wieder für uns selbst und für andere sensibilisieren? Am reizvollsten an der Vorstellung, ein Hummer zu sein, ist vielleicht die Aussicht, ein Leben in ruhigen Gewässern zu führen, fern der animalischen Massen auf sich selbst zu hören. Hummer gehören einfach nicht in den Zoo.

Jonathan Horstmann

Gesehen beim 9. LICHTER Filmfest Frankfurt International als Teil des internationalen Langfilmprogramms zum Thema „Grenzen“.