Was ist nochmals Tschetschenien? Als hätte der Regisseur, Autor und Kameramann José Costa mit dieser Frage gerechnet, antwortet er relativ zu Beginn seines Dokumentarfilmes mit einer Landkarte. Tschetschenien ist dort ein roter Schnipsel. Und dieser ist im Vergleich zum ganzen Staatsgebiet Russlands sehr klein. Es ist eine autonome Republik am südlichen Ende des Landes, im Nordkaukasus, die seit dem Zerfall der Sowjetunion in den Jahren 1994 und 1999 von zwei Kriegen gegen die Zentralregierung erschüttert wurde.

Für die vier Porträtierten in José Costas Dokumentarfilm „We Chechens“ – drei Männer und eine Frau – endet Tschetschenien dort, wo sie die kleine, von einem Wolf gezierte grün-rote Flagge auspacken und sorgsam in einen silbernen Ständer verschraubt auf den Tisch stellen. Das Land lebt für sie in Hinterzimmern und Erinnerungen fort. Sie sprechen über bezaubernde Berglandschaften, die man zwischen Einstellungen von Plattenbauten und U-Bahnstationen jedoch nie zu sehen bekommt. Einer der älteren Männer redet über das Wesen des Wolfes, kühn und furchtlos, der nicht nur auf Flaggen, sondern zudem als Gravur auf dem Ring an seiner Hand zu sehen ist.  Kuchenessend, in uns ungewohnten Trachten auf einer Couch, hat er aufgrund seines Stolzes tatsächlich etwas von einem Wolf. Was daran rührt, ist die Diskrepanz zwischen tiefen Gefühlen und einer ihnen entrückten Oberfläche. So wirkt es beinahe, als wäre das Tschetschenien der Porträtierten aus der Realität verschwunden und der Versuch, es in die nächste Generation und nach Deutschland hinüberzuretten, gescheitert. In einer Welt, die „die“ Tschetschenen beständig missversteht, scheinen ihre Kultur, Wertevorstellungen, Trachten und Traditionen alles zu sein, was ihnen Halt gibt. Gemeinsam mit ihnen erleben wir eine Dimension der Realität, in der das Wichtige unsichtbar bleibt.

Was geblieben ist, ist der Schmerz. Er zeigt sich einerseits in expliziten Schwarzweiß-Bildern Verwundeter, in Schreien der Trauernden und zerstörten Städten durch die zwei Tschetschenienkriege, in denen das Land für seine Unabhängigkeit kämpfte. Der Schmerz zeigt sich andererseits aufgrund von Fernsehaufnahmen, in denen europäische Staatsoberhäupter mit Putin an Tischen sitzen und Tschetschenen als radikale Islamisten bezeichnet werden, die Probleme verursachen, ganz gleich wo sie hinkommen. In rassistischen Äußerungen deutscher Polizisten, zwischen Clankriminalität und fast vergessenen Kriegen scheint ein verworrenes Stück Weltgeschichte auf, in der scheinbare Islamisten vor Putin warnen, während die Welt dessen Hand schüttelt. Die Parallelen zum heutigen Krieg in der Ukraine sind unverkennbar. Auch Tschetschenien wird als ein Land im Freiheitskampf gegen die Klauen des russischen Bären dargestellt, ohne aber vom Westen je unterstützt worden zu sein. Zeitgleich zeigen sich jedoch Parallelen zum US-amerikanischen Kampf gegen Terror. „Warum denken Menschen, Sie seien Extremisten?“, wird eine Frau mit tschetschenischen Wurzeln auf einer Parkbank für ein Interview gefragt. „Sie glauben der Propaganda im Kreml“, antwortet sie. Tschetschen:innen spiegeln den Krieg in der Ukraine, sagten seine Eskalation sogar in erschütternder Klarsichtigkeit voraus und blieben aus eurozentristischer Perspektive dennoch eine sonderbare Leerstelle. Man hat das Bedürfnis, genauer klären zu wollen, was der Dokumentarfilm fragmentarisch aufwirft.

Der Film bleibt nah an der heutigen Lebensrealität seiner Protagonist:innen. Diese scheinen eingeengt zwischen zwei Fronten. Auf der einen Seite sind europäische Klischees und Feindseligkeiten, auf der anderen Seite ist das nicht zu vergessene Leid erlebter Kriege. Diese beiden Gewalten treiben sie wechselseitig so in die Enge, dass ihnen nur sehr wenig Raum bleibt. Das Leben spielt sich zwischen Stoffen mit Tarnmustern und Nähmaschinen, zwischen Teetassen und Süßspeisen ab. Kinder laufen mit Spielzeugwaffen durch das Bild. Für viele Gegenstände, Gerichte und Gefühle fehlen deutsche Worte, was eine Identifizierung schwierig macht. In beengte Zimmer werden gefühlsbeladene Zeremonien gezwängt und Kinder in alte Trachten. Sie sollen für ihre Eltern genau das sein: Erben eines ihnen verloren gegangen Landes. Die Frauen haben zwischen europäischen Ansprüchen und ihren konservativen Männern kaum Freiraum. Sie atmen auf, wenn sie zusammensitzen können. „Wir können kein Deutsch, aber alles andere“, sagen sie und zeigen auf ihren Smartphones Bilder perfekter Torten. Es bleibt das Gefühl, nicht ganz zu ihnen durchzudringen. Als spiegelten sie die feministischen Debatten, ideologischen Kriege und brutalen Kämpfe dieser Welt ungerechtfertigter Weise in ihnen als Menschen.

In der Philosophie werden Fragen nach Flucht und Vertreibung seit Hannah Arendts Essay „We refugees“ häufig auf solche nach Rechten und Staatsangehörigkeit heruntergebrochen. Entweder man hat beides oder nichts davon. Dass die Realität in viel subtileren Formen schattiert, indem sie Menschen rassistischen Strukturen unterwirft, erleben Unzählige tagtäglich. In „We Chechens“ kann man dabei zusehen. Man sieht es etwa, wenn eine Gruppe alter Menschen, die nicht so recht in unsere heutige Welt zu passen scheinen, vor ein UN-Gebäude zieht, um für die Freiheit ihres Landes einzustehen. Man sieht es daran, dass nichts weiter passiert, außer dass von Beamten ihre Personalien aufgenommen werden. Der Krieg hat ihnen mehr genommen als Heimat. Kriege enden nicht. Sie reißen Wunden auf, die bleiben.

 – Lena Frings