„Why is defiance the anomaly instead of the norm?“ Diese Forschungsfrage beschäftigte den US-amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram, der durch das nach ihm benannte Milgram-Experiment in den 1960er Jahren zu weltweiter Berühmtheit gelangte. Im Rahmen des Experiments bat Milgram die Teilnehmer*innen, sich selbst in die Position eines „Lehrers“ zu begeben. Sie sollten einer Person im Nebenraum über ein Mikrofon Wortpaare vorlesen, die nach Zunahme anderer Worte wieder korrekt zusammengesetzt werden sollten. Bei falscher Antwort waren die „Lehrer“ angehalten, ihre „Schüler“ durch Stromschläge negativ zu konditionieren, die in ihrer Intensität sukzessiv ansteigen. Dabei wurde den „Lehrern“ vorenthalten, dass es sich bei den „Schülern“ um bezahlte Schauspieler handelte, die nur vorgaben, geschockt zu werden, um herauszufinden, inwieweit der Durchschnittsmensch unter Anweisung einer Autorität gegen seine eigenen moralischen Vorstellungen handeln würde. Obwohl Milgrams Experiment seitdem maßgeblich die Psychologie und viele andere Geisteswissenschaften beeinflusst hat, werden er als Person und seine Forschungsethik kontrovers diskutiert.

Seine Persona beleuchtet nun Michael Almereydas Biopic EXPERIMENTER(2015). Der Film zeugt dabei auf formaler Ebene von einer hohen Komplexität, die in vielerlei Hinsicht von der grundlegendsten der Hollywood-Erzählkonventionen abzuweichen scheint: Verwirre niemals den Zuschauer! Die lineare Zeitlichkeit der meisten Hollywoodproduktionen wird in EXPERIMENTER durch eine Parallelmontage von Milgrams eigentlichen Experimenten und seinem Privatleben aufgebrochen. Dabei wird die Liebesgeschichte mit seiner Frau Sasha wie im Zeitraffer erzählt: nach dem ersten Kennenlernen folgt der Einzug, danach das Kind, das Haus, das zweite Kind und schließlich auch eine (kurze) Ehekrise. Diese Ausschnitte seines Lebens werden dabei immer wieder von der Darstellung seiner Arbeit interpunktiert. Dieser gefühlte Schnelldurchlauf ist als Reflexion auf Milgrams Leben zu sehen, da er schon im Alter von 51 Jahren verstarb.

Während des kompletten Films nutzt Almereyda immer wieder Stilmittel, die die Zuschauer*innen einen Verfremdungseffekt spüren lassen. Im Stil der Filme der 1950er und 60er Jahre lässt Almereyda vor allem die Außensets immer wieder in Form einer plastischen Leinwand hinter den Akteuren erscheinen, um den Rezipienten die Filmästhetik und Technizität vergangener Zeiten vor Augen zu führen. Der Film erscheint dadurch in manchen Momenten theatral – vor allem in der Szene, in der Milgram und seine Frau seinen ehemaligen Förderer Solomon Asch in seinem Haus besuchen, positioniert sich das Biopic in einer Reihe von Filmen, wie z.B. Lars von Triers DOGVILLE (2003) oder Peter Greenaways THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER (1989), die die Grenze zwischen Film und Theater verwischen. Hier wird eine Version sozialer Interaktion transportiert, wie sie Milgram scheinbar in seinem eigenen Leben oft erlebte: unverstanden sein gepaart mit einer gewissen Prise Selbsterhöhung.

In dieser Blaupause verkörpert Peter Sarsgaard den Psychologen in EXPERIMENTER als hochgradig rationalen, in erster Linie erkenntnisorientierten Mann, der seiner Zeit zuvor zu sein scheint. Es ist da sicherlich kein Zufall, dass Milgram aus dem Off aus dem Jenseits Teile seiner Geschichte erzählt, die sich nach seinem Tod ereignet haben. Gleichzeitig bringt Almereyda den Zuschauer bereits zu Beginn des Films mit Milgram in Komplizenschaft: ihm ist es als einziger Figur möglich, die vierte Wand zum Zuschauer zu brechen. Besonders in der Szene, in der sich Milgram vor seinen Kollegen für die für Ambivalenz seines Experiments rechtfertigen muss, führt seine direkte Anrede des Zuschauers einerseits zu einem besseren Verständnis für ihn – andererseits wirkt er in seinem Erkenntnishunger gegenüber den anderen Figuren fremd. Dabei nimmt der Film in manchen Momenten so sehr Milgrams Perspektive ein, dass er besonders gegenüber den Teilnehmer*innen der Studie partiell den moralischen Zeigefinger erhebt. Als stärkstes Beispiel dafür fungiert die Szene, in der drei Teilnehmerinnen der Studie zur Nachbesprechung gebeten werden, nachdem sich einige Kontroversen um das Experiment ergeben haben. Alle drei verhalten sich genau nach der Art von Konformität, die Milgram so kritisch betrachtet. So äußert eine der drei Damen: „Maybe one shouldn’t do this kind of experiment if you have to deceive“, woraufhin eine andere erwidert: „Well look, you can deceive other people, but don’t deceive me.“ Das „Fremdkörpergefühl“, das die subjektive Perspektive des Films manchmal evoziert, wird für das Publikum jedoch durch Milgrams Frau Sasha aufgefangen – gespielt von Winona Ryder, die in EXPERIMENTER wieder an ihre Hochzeit in den 1990er Jahren anschließen kann. In wenigen Szenen vermag sie es, Sarsgaards Milgram die nötige emotionale Tiefe zu verleihen, die es braucht, um seine Handlungen emphatisch nachvollziehen zu können.

So funktioniert EXPERIMENTER als hochinteressantes, etwas anderes Biopic, das neben Sarsgaard und Ryder sowohl durch sein gesamtes Casting, als auch durch kluge formale Entscheidungen überzeugt, die mit dem Erzählten in Einklang stehen.

Julia Willms

Zu sehen im internationalen Langfilmwettbewerb vom 9. LICHTER Filmfest Frankfurt International