Die Venus ist die römische Göttin der Liebe, Nike die griechische Göttin des Sieges. Heutzutage ist Nike jedoch vor allem bekannt als Namensgeberin einer Trainingsschuhmarke. Nach kurzer Recherche habe ich herausgefunden, dass dieser scheinbar willkürlich zusammengesetzte Titel Venus in Nykes von der Novelle „Venus im Pelz“ abgeleitet ist. Die Novelle, in der die Lust, sich erniedrigen zu lassen, thematisiert wurde und die später den Begriff Masochismus inspirierte, benannt nach ihrem Autor Leopold Sacher-Masoch. Auch in André Antónios Film ist der Aspekt des Masochismus Hauptthema. Anders als bei Sacher-Masoch hängt Antónios Fetisch jedoch nicht mit Pelz, sondern mit Schuhen, Socken und Füßen zusammen. Antónios Venus trägt also keinen Pelz, sondern Nikes, und um eine Venus im Sinne von Frau geht es auch nicht, denn Antónios Protagonist, der darüber hinaus von ihm selbst gespielt wird, ist schwul.

„Diferente de todo paciente…“ so hören wir eine Psychologin über Antonio sprechen, „im Gegensatz zu all meinen anderen Patienten zeigt er keinerlei Unbehagen bezüglich seiner sexuellen Verrücktheit. Ganz im Gegenteil.“ Sie ist erstaunt, doch sie fühlt sich in ihrer Diagnose bestätigt. Es handelt sich um eine akute Melancholie, doch auch unter Realitätsflucht leidet dieser seltsame Mann, der nun mehrere Sitzungen bei ihr hatte und sie mit jedem Mal aufgewühlter als zuvor zurücklässt. Er erzählt von seinen Erinnerungen an die Schulzeit, von seinen Träumen, und allem anderen, was uns einen intimen Einblick in sein Fetischuniversum gibt. Dennoch, alles was er erzählt, egal wie seltsam und befremdlich es auch ist, es wird von ihm auf sinnliche, poetische, und auch stolze Art vorgetragen.

Die Attraktivität eines Mannes richtet sich für ihn gänzlich nach dessen Schuhwerk. Der Rückblick auf den ein oder anderen mobbenden Klassenkameraden stellt sich als erste Bewusstwerdung seiner paraphilen Neigungen heraus. Auch mit Untermauerung seiner Vorstellungen mit philosophischen und literarischen Querverweisen spart er nicht. Der Patient nimmt uns und die Psychologin mit auf eine Reise durch seine Fetischwelten, die auch von einem Prozess der Selbstreflexion bestimmt wird. Dabei wird er von philosophischen Konzepten wie Sartres Existenzialismus gelenkt, der für ihn aussagt, dass ein Wesen an sich und für sich komplett ist, und somit so richtig ist, wie es ist. Doch das Eintauchen ins Fetischuniversum birgt eine Gefahr der Sucht, welche im weiteren Verlauf thematisiert wird. Die Psychologin fungiert hier als Gegensatz und Stimme der Vernunft, sie erinnert uns daran, dass der Patient übertreibt und verrückt ist. „Manchmal verfällt er so tief in seinen Wahn, dass er sich einbildet, eine Art Prophet zu sein. Als wäre er Teil einer Sekte.“

Die Sekte, auf Portugiesisch A seita, so hieß der Vorgängerfilm des Regisseurs André António. Für ihn zeichnen sich Sekten insbesondere durch eine gewisse Spiritualität und Religiosität aus. Auch in Venus in Nykes erkennt er diese Perspektive darauf und beschreibt in einem Interview das Eintauchen in die Fetischwelt des Patienten als Ausgang aus der Privatsphäre, die zwangsläufig dazu führt, Gleichgesinnte zu treffen, mit denen man eine sektenähnliche Gruppe bildet.

Nicht nur die Sprache und literarischen Verweise, auch die Musik dient dazu, die Szenen gekonnt aufzumischen: Die überwiegend schwule Thematik wird mit Musik mit sexuell weiblichem Inhalt unterlegt. Die Identifikation mit der weiblichen Sexualität wühlt die Vorstellung der gewohnten Heteronormativität auf und lässt die Grenzen zwischen Geschlechtsstereotypen verschwimmen.

Der Patient wird im Laufe der Gespräche immer selbstbewusster und exzentrischer. Es ist genauso so wie die Psychologin es beschrieb. Er verfällt dem Wahn fast komplett und sieht nur seine Gelüste und stellt sie über alles andere. Ja, er kündigt sogar eine Revolution gegen die Vanillas an! Die Vanillas, etwas, das er der Psychologin später erklären möchte, ich dagegen erlaube es mir, dies sofort zu tun: Dabei handelt es sich um eine Bezeichnung für Menschen, die lediglich konventionelle sexuelle Spielarten ausüben, die keine fetischorientierten Elemente enthalten.

Bald sieht man den Patienten mit zwei gepflegten Füßen in der Hand, die von ihm vorsichtig beschnüffelt werden. Es folgt ein mehrere Minuten langer, unangenehmer und fast unerträglicher Fußfetisch-Porno. Die Überraschung kommt, als die Kamera zur Seite schwenkt und uns den Körper der befriedigten Füße zeigt: es handelt sich um keinen anderen als den Patienten selbst. Er hat soeben fantasiert, wie er sich selbst die Füße lutscht, doch dort endet sein Fiebertraum nicht. Der verrückte Patient driftet weiter ab und verliert immer mehr die Kontrolle über seine lustvolle Fantasie. Was er sich gefühlt in schnell geschnittener Folge vorstellt, ist eine Montage aus Ausschnitten aus Pornhub, alten Filmen und weitere explizite Szenen mit dem Patienten selbst, begleitet von lauter, popartiger elektronischer Musik mit sexuellen Lyrics.

Aus seiner unkontrollierten Fantasie rausgeholt wird er von keiner anderen als der Psychologin, die ihrer gegensätzlichen und vernünftigen Rolle erneut gerecht wird. Es ist zunächst kaum zu glauben, doch auch die Psychologin wird von André António gespielt.

Die Überraschung, im Kino plötzlich und ohne Vorwarnung mit expliziter Pornographie überrumpelt zu werden, musste ich noch verarbeiten, weshalb ich zunächst doch etwas von dem Film genervt war. Doch die Frage, warum genau der Regisseur auf diese Art auf ein Zusammenspiel der Genres gesetzt hat, ließ mich nicht los. Wollte er möglicherweise, dass das Publikum sich unwohl fühlt? Die Kampfansage an die Vanillas lässt darauf hindeuten. Mein nächster Gedanke war es, diesen Satz als einen Gipfel seiner sexuellen Fantasiereise zu sehen, die er gar nicht ernst meint, aber ihn in dem Moment äußerst befriedigt. Auf diesem Gedankenpfad bleibe ich und denke mittlerweile, dass es viel mehr darum geht, darauf zu verzichten, an ein Publikum zu denken. Es handelt sich um eine gänzlich ungebundene und dadurch schamlose Form des Selbstausdrucks, die mit einer Zurückweisung der Bedürfnisse eines Vanilla-Publikums einhergeht. Eine Form, die sich genau die Art von Freiheit nimmt, die selbst im konventionellen Alltag einer freiheitlichen Demokratie nicht existieren kann, aber im Film ohne weiteres hingenommen werden muss.

Eine weitere Frage, die sich in dem Zusammenhang stellt, ist die, ob es sich bei der Rahmenhandlung überhaupt um richtige Therapiesitzungen handelt und nicht etwa um einen langen Tagtraum des Protagonisten, in dem er seinen Fetisch und die konventionelle Realität in einer Metaebene reflektiert.

Nichtsdestotrotz ist André António ein Film gelungen, in dem er auf minimalistische und charmante Art seine Vorstellungen verständlich darzustellen und einen sinnlichen und philosophischen Fetisch der Vernunft gegenüberzustellen versucht. Ob der Film etwas für jeden Leser ist, sei dahingestellt. Wer sich von expliziten Szenen nicht verjagen lässt, kann in die philosophische reflektierte Reise eintauchen. Wem die expliziten Szenen gefallen, kann den Film in seiner Gesamtheit genießen.

Selam Russom