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Das Warnblinklicht vor dem Bahnübergang gibt das Signal zum Anhalten. Gehorsam tritt der Mann, der am Steuer sitzt, auf die Bremse. Feigling, meint seine Frau. Es ist doch noch gar kein Zug zu sehen. Mit brennender Kippe steigt sie aus dem Wagen und stellt sich im Licht der Autoscheinwerfer auf die Gleise. Jetzt rollt etwas Polterndes heran. Sie zieht an ihrer Zigarette. Der Zug müsste sie jeden Moment erfassen. Ungläubig fixieren die Augen des Mannes die bevorstehende Kollision. Dann rauschen die Waggons um Haaresbreite an seiner Frau vorbei.

Schon vor dieser Provokation steht die Ehe von Lucian und Andra unter keinem guten Stern. Kaum sind sie zu Beginn des Films ORIZONT in den Bergen Transsilvaniens angekommen, wo sie mit Sohn und Großmutter das gleichnamige Hotel auf Touren bringen wollen, werden sie dort in die kriminellen Machenschaften eines Rohstoffdiebs verstrickt. Lucian soll für ihn beobachten, welche Holzlieferungen im Umfeld des Gasthofs transportiert werden; dafür winkt eine lukrative Entschädigung. Bis in die Details ist diese Geschichte eine Adaption der Erzählung „Die Glücksmühle“ von Ioan Slavici aus dem Jahr 1881. Der mit zahlreichen wichtigen Festivalpreisen ausgezeichnete Regisseur Marian Crișan hat sie von seinem Landsmann adaptiert und ins zeitgenössische Rumänien übertragen.

Das Ergebnis kommt leider wenig überzeugend daher. Obwohl Crișan ein versierter Regisseur ist, der Schauspieler und Schauplätze geschmackvoll in Szene setzen kann, weiß er mit den Hauptfiguren seines neuen Films nichts anzufangen. Immer wieder stellt er uns in Ansätzen ein Ehedrama in Aussicht, vielleicht auch einen Vater-Sohn-Konflikt, zumindest wohl einen Krimi – doch nichts davon entfaltet sich. Der Film verweigert sich der Festlegung auf einen eindeutigen Handlungsverlauf. Es scheint, als setzten die Beteiligten vor und hinter der Kamera darauf, dass irgendeine Geschichte schon von selbst zustande komme, wenn die Darsteller nur neunzig Minuten lang traurig genug aus der Wäsche schauten. Beziehungsprobleme werden ständig angedeutet, aber nie erörtert. Anstelle klärender Dialoge leere Bilder: Szene für Szene wabert zum soundsovielten Mal der Zigarettenrauch, hängt wieder dicker Nebel über bewaldeten Berggipfeln, und alles bleibt immer genauso unklar wie zehn Minuten zuvor.

Dieser Mangel an Substanz hat etwas damit zu tun, dass der Film seiner literarischen Vorlage nicht Rechnung trägt. Slavicis Novelle lebt von vier zentralen Charakteren – das Ehepaar, der Bandit und ein Polizist –, von denen die zwei Letztgenannten einst zusammen im Gefängnis saßen und sich seither bekämpfen. Den Konflikt dieser raffinierten Konstellation, dass nämlich der Hotelchef geheime Bündnisse mit beiden Männern pflegt und seine Frau sich auf erotische Abenteuer mit dem Gangster einlässt (woran die Ehe des Paares zerbricht und mit ihr die gesellschaftliche Ordnung), deutet Crișans Film lediglich an. Vorrangig schießt er sich völlig auf das Ehepaar ein und degradiert alle anderen Figuren zu unbedeutenden Nebenrollen. Prompt kann er wegen des resultierenden Mangels an Schlüsselbeziehungen nicht deutlich machen, was Lucian und Andra eigentlich auseinandertreibt. Statt ihre Krise vorzuführen, behauptet er sie nur.

Der Film wäre vielleicht zu retten gewesen, hätte Crișan sich einfach eine abweichende eigene Erklärung für die miese Stimmung auf der Hütte ausgedacht. Zum Beispiel eine Vorgeschichte darüber, warum Lucian so empfänglich für illegale Geschäfte ist. Will er nicht immerhin schon vor dem Erscheinen des Gauners im Hotel schmutziges Geld machen? War er früher schon kriminell? Hat Andra ihrerseits selbstzerstörerische Tendenzen, so wie ihr Verhalten auf dem Bahnübergang es nahelegt? ORIZONT hätte solche Ideen weiterspinnen können. Doch er dümpelt nur behäbig vor sich hin. Das Finale mit seiner aufdringlichen Neuanfangs-Symbolik in Gestalt einer Ostermesse schlägt dem Fass dann endgültig den Boden aus.

Jonathan Horstmann

ORIZONT lief im Wettbewerb des goEast Film Festival 2016.