Meiko, ein Model, stellt fest, dass ihre beste Freundin romantische Gefühle für ihren Ex-Freund hegt. Nao, eine verheiratete Mutter, beginnt eine Affäre mit einem kontroversen Professor und Literaturpreisgewinner, um seine Karriere zugunsten ihres jüngeren Liebhabers zu ruinieren. Natsuko trifft eine ehemalige Klassenkameradin, nur um später zu lernen, dass sie die Frau noch nie in ihrem Leben getroffen hat. Dies sind die drei Szenarien, die Ryusuke Hamaguchi in seinem Vignettefilm Wheel of Fortune and Fantasy erforscht: Jedes von ihnen thematisch eigenständig, und dennoch unscheinbar miteinander verbunden durch einen surrealen, überraschenden, und unerwarteten narrativen Schicksalsfaden.

Der japanische Auteur-Filmemacher Ryusuke Hamaguchi hatte zweifellos ein sehr ereignisreiches Jahr 2021: Nicht nur gelang ihm der mehr als verdiente Durchbruch ins Arthouse-Stardom mit bedeutenden Siegen in Berlin und Cannes, sondern schaffte er es ebenfalls, zwei Filme in einem Jahr zu veröffentlichen – nicht, dass eines seiner enigmatischen, dialogschweren und mysteriös fesselnden Werke nicht schon genug gewesen wäre. Während Drive My Car mit Preisen in Cannes, auf diversen Kritikerfestivals und schließlich bei den Oscars letzten Monat dekoriert wurde, fiel der Berlin-Favorit Wheel of Fortune and Fantasy etwas unters Radar. Dabei folgt Hamaguchis Vignettefilm denselben Umständen, die Drive My Car zu so massivem Erfolg katapultiert haben: Erneut widmet sich Hamaguchi einem seiner favorisierten Themen – der Frau und deren zwischenmenschlichen Beziehungen – mit einer dialoglastigen, visuell minimalistischen Erzählweise. Ebenso präsentiert der Film auf den ersten Blick ordinäre, beinahe triviale Lebensumstände, welche innerhalb kürzester Zeit zur Brutstätte philosophisch-existenzieller Fragen mutieren. Der deutlichste Unterschied zu Hamaguchis etabliertem Konzept ist hierbei das Format: Die Vignette-Struktur von Wheel of Fortune and Fantasy erlaubt es, drei kondensiertere, experimentellere Geschichten zu erzählen, die in Aufbau und Umsetzung näher an den Kurzgeschichten Haruki Murakamis liegen als an ähnlich langen Kurzfilmen. Die langen, oftmals höchst ambigen Konversationen, die Hamaguchi in allen drei seiner Szenarien geschickt inszeniert, tragen eine ähnliche atmosphärische Qualität mit sich wie eine durchschnittliche Kurzgeschichtensammlung des international gefeierten japanischen Autors – ebenso wie die narrativ komplexe und thematisch dichte Natur der Szenarien selbst. Hamaguchis drei Erzählungen, deren enigmatische Entwicklung und die oftmals offenen Enden fungieren beinahe als einzelne Puzzles in sich selbst: Warum geschehen Dinge, wie wir sie sehen? Wie sehr können die Umstände unseres Lebens vom Zufall diktiert sein? Diese Fragen wirft Hamaguchi auf – überlässt es jedoch alleinig dem Zuschauer, Antworten zu finden.

Diese absolute Offenheit bezüglich Verständnisfragen ist eben das, was eine bedeutsamere inhaltliche Diskussion zunehmend erschwert und auf eine Art vom Film selbst verwehrt wird: Hamaguchis Geschichten sind welche, die erlebt, nicht um- oder beschrieben, werden sollten. Es sind ebenfalls Geschichten, auf die man sich gewissermaßen einlassen muss – bei manchen Zuschauer:innen kann Hamaguchis ambige Erzählweise auf taube Ohren treffen. Eben das ist jedoch ebenfalls Teil des unzweifelhaften Genies von Wheel of Fortune and Fantasy: Wie das Leben selbst ist er heimgesucht von Unklarheit, Mysterien, und einer komplett unberechenbaren Zukunft außerhalb der einzelnen Erzählungen. Teilnehmen an Hamaguchis tiefgründigen, unberechenbaren Einblicken in das reine Menschsein bedeutet hier, sich ebenfalls die Limitationen der eigenen Wahrnehmung bewusst zu machen – und ebenso die Chance auf ein mehr als besonderes filmisches Erlebnis.

Sebastian Hafner